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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung;
denn er weis es, warum er verfolgt wird (

ginos-
kon ou kharin dioketai

). Diese Erhebung des In-
stinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben soll,
macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei-
che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird
sie es denn hier nicht? Ich sage: sie wird es deswe-
gen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die
Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi-
duo zu; und es läßt sich keine Wirklichkeit ohne die
Individualität gedenken. Was also hier von dem
ganzen Geschlechte der Biber gesagt wird, hätte
müssen nur von einem einzigen Biber gesagt werden;
und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. -- Ein
ander Exempel:

"Die Affen, sagt man, bringen
"zwey Junge zur Welt, wovon sie das eine sehr
"heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle-
"gen, das andere hingegen hassen und versäumen.
"Durch ein sonderbares Geschick aber geschieht es,
"daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb-
"kosungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich
"aufwächset *."

Auch dieses ist aus eben der Ur-

sache,
* Fab. Aesop. 268.

delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung;
denn er weis es, warum er verfolgt wird (

γινωσ-
κων ȣ̍ χαριν διωκεται

). Dieſe Erhebung des In-
ſtinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben ſoll,
macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei-
che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird
ſie es denn hier nicht? Ich ſage: ſie wird es deswe-
gen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die
Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi-
duo zu; und es läßt ſich keine Wirklichkeit ohne die
Individualität gedenken. Was alſo hier von dem
ganzen Geſchlechte der Biber geſagt wird, hätte
müſſen nur von einem einzigen Biber geſagt werden;
und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. — Ein
ander Exempel:

„Die Affen, ſagt man, bringen
„zwey Junge zur Welt, wovon ſie das eine ſehr
„heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle-
„gen, das andere hingegen haſſen und verſäumen.
„Durch ein ſonderbares Geſchick aber geſchieht es,
„daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb-
„koſungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich
„aufwächſet *.“

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ſache,
* Fab. Aeſop. 268.
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[162/0182] delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung; denn er weis es, warum er verfolgt wird ( γινωσ- κων ȣ̍ χαριν διωκεται). Dieſe Erhebung des In- ſtinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben ſoll, macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei- che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird ſie es denn hier nicht? Ich ſage: ſie wird es deswe- gen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi- duo zu; und es läßt ſich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. Was alſo hier von dem ganzen Geſchlechte der Biber geſagt wird, hätte müſſen nur von einem einzigen Biber geſagt werden; und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. — Ein ander Exempel: „Die Affen, ſagt man, bringen „zwey Junge zur Welt, wovon ſie das eine ſehr „heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle- „gen, das andere hingegen haſſen und verſäumen. „Durch ein ſonderbares Geſchick aber geſchieht es, „daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb- „koſungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich „aufwächſet *.“ Auch dieſes iſt aus eben der Ur- ſache, * Fab. Aeſop. 268.

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/182>, abgerufen am 21.11.2024.