Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

Bild:
<< vorherige Seite
Quos immolatos victor avidis dentibus
Capacis alvi mersit tartareo specu.

Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es
aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich-
ter die Moral bestimmter und fruchtbarer angenom-
men hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln
Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu seinem
Gegenstande gewählet; und nur durch dieses Be-
streben
, durch diese eitle Größe, ist natürlicher
Weise auch in seine Fabel das Leben gekommen, das
uns so sehr in ihr gefällt.

Ueberhaupt hat Batteux die Handlung der Ae-
sopischen Fabel, mit der Handlung der Epopee und
des Drama viel zu sehr verwirrt. Die Handlung
der beyden letztern muß außer der Absicht, welche
der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr
selbst zukommende Absicht haben. Die Handlung
der erstern braucht diese innere Absicht nicht, und
sie ist vollkommen genug, wenn nur der Dichter seine
Absicht damit erreichet. Der heroische und drama-
tische Dichter machen die Erregung der Leidenschaf-

ten
K 5
Quos immolatos victor avidis dentibus
Capacis alvi merſit tartareo ſpecu.

Dieſe Fabel iſt ungleich ſchöner. Wodurch iſt ſie es
aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich-
ter die Moral beſtimmter und fruchtbarer angenom-
men hat? Er hat das Beſtreben nach einer eiteln
Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu ſeinem
Gegenſtande gewählet; und nur durch dieſes Be-
ſtreben
, durch dieſe eitle Größe, iſt natürlicher
Weiſe auch in ſeine Fabel das Leben gekommen, das
uns ſo ſehr in ihr gefällt.

Ueberhaupt hat Batteux die Handlung der Ae-
ſopiſchen Fabel, mit der Handlung der Epopee und
des Drama viel zu ſehr verwirrt. Die Handlung
der beyden letztern muß außer der Abſicht, welche
der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr
ſelbſt zukommende Abſicht haben. Die Handlung
der erſtern braucht dieſe innere Abſicht nicht, und
ſie iſt vollkommen genug, wenn nur der Dichter ſeine
Abſicht damit erreichet. Der heroiſche und drama-
tiſche Dichter machen die Erregung der Leidenſchaf-

ten
K 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <cit>
              <quote> <hi rendition="#et">
                  <pb facs="#f0173" n="153"/> <hi rendition="#aq">Quos immolatos victor avidis dentibus<lb/>
Capacis alvi mer&#x017F;it tartareo &#x017F;pecu.</hi> </hi> </quote>
              <bibl/>
            </cit><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Fabel i&#x017F;t ungleich &#x017F;chöner. Wodurch i&#x017F;t &#x017F;ie es<lb/>
aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich-<lb/>
ter die Moral be&#x017F;timmter und fruchtbarer angenom-<lb/>
men hat? Er hat das <hi rendition="#fr">Be&#x017F;treben</hi> nach einer eiteln<lb/>
Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu &#x017F;einem<lb/>
Gegen&#x017F;tande gewählet; und nur durch die&#x017F;es <hi rendition="#fr">Be-<lb/>
&#x017F;treben</hi>, durch die&#x017F;e eitle Größe, i&#x017F;t natürlicher<lb/>
Wei&#x017F;e auch in &#x017F;eine Fabel das Leben gekommen, das<lb/>
uns &#x017F;o &#x017F;ehr in ihr gefällt.</p><lb/>
            <p>Ueberhaupt hat <hi rendition="#fr">Batteux</hi> die Handlung der Ae-<lb/>
&#x017F;opi&#x017F;chen Fabel, mit der Handlung der Epopee und<lb/>
des Drama viel zu &#x017F;ehr verwirrt. Die Handlung<lb/>
der beyden letztern muß außer der Ab&#x017F;icht, welche<lb/>
der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zukommende Ab&#x017F;icht haben. Die Handlung<lb/>
der er&#x017F;tern braucht die&#x017F;e innere Ab&#x017F;icht nicht, und<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t vollkommen genug, wenn nur der Dichter &#x017F;eine<lb/>
Ab&#x017F;icht damit erreichet. Der heroi&#x017F;che und drama-<lb/>
ti&#x017F;che Dichter machen die Erregung der Leiden&#x017F;chaf-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0173] Quos immolatos victor avidis dentibus Capacis alvi merſit tartareo ſpecu. Dieſe Fabel iſt ungleich ſchöner. Wodurch iſt ſie es aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich- ter die Moral beſtimmter und fruchtbarer angenom- men hat? Er hat das Beſtreben nach einer eiteln Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu ſeinem Gegenſtande gewählet; und nur durch dieſes Be- ſtreben, durch dieſe eitle Größe, iſt natürlicher Weiſe auch in ſeine Fabel das Leben gekommen, das uns ſo ſehr in ihr gefällt. Ueberhaupt hat Batteux die Handlung der Ae- ſopiſchen Fabel, mit der Handlung der Epopee und des Drama viel zu ſehr verwirrt. Die Handlung der beyden letztern muß außer der Abſicht, welche der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr ſelbſt zukommende Abſicht haben. Die Handlung der erſtern braucht dieſe innere Abſicht nicht, und ſie iſt vollkommen genug, wenn nur der Dichter ſeine Abſicht damit erreichet. Der heroiſche und drama- tiſche Dichter machen die Erregung der Leidenſchaf- ten K 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/173
Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/173>, abgerufen am 21.11.2024.