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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte,
hat bey seiner Erklärung nur die erste Fabel des
Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als ein-
mal, une des plus belles & des plus celebres de l'an-
tiquite
nennet. Es ist wahr, in dieser ist die Hand-
lung ein Unternehmen, das mit Wahl und Absicht
geschiehet. Der Wolf nimmt sich vor, das Schaf
zu zerreissen,

fauce improba incitatus;

er will es
aber nicht so plump zu, er will es mit einem Schei-
ne des Rechts thun, und also

jurgii causam intulit.

--
Ich spreche dieser Fabel ihr Lob nicht ab; sie ist so
vollkommen, als sie nur seyn kann. Allein sie ist
nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung
ein Unternehmen ist, das mit Wahl und Absicht
geschiehet; sondern weil sie ihrer Moral, die von
einem solchen Unternehmen spricht, ein völliges
Genüge thut. Die Moral ist *:

ois prothesis adi-
kein, par' autois ou dikaiologia iskhuei.

Wer den
Vorsatz hat, einen Unschuldigen zu unterdrücken,
der wird es zwar

meth' eulogou aitias

zu thun suchen;
er wird einen scheinbaren Vorwand wählen; aber

sich
* Fab. Aesop. 230.

Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte,
hat bey ſeiner Erklärung nur die erſte Fabel des
Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als ein-
mal, une des plus belles & des plus celebres de l’an-
tiquité
nennet. Es iſt wahr, in dieſer iſt die Hand-
lung ein Unternehmen, das mit Wahl und Abſicht
geſchiehet. Der Wolf nimmt ſich vor, das Schaf
zu zerreiſſen,

fauce improba incitatus;

er will es
aber nicht ſo plump zu, er will es mit einem Schei-
ne des Rechts thun, und alſo

jurgii cauſam intulit.


Ich ſpreche dieſer Fabel ihr Lob nicht ab; ſie iſt ſo
vollkommen, als ſie nur ſeyn kann. Allein ſie iſt
nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung
ein Unternehmen iſt, das mit Wahl und Abſicht
geſchiehet; ſondern weil ſie ihrer Moral, die von
einem ſolchen Unternehmen ſpricht, ein völliges
Genüge thut. Die Moral iſt *:

ὁις προϑεσις ἀδι-
κειν, παρ᾿ ἀυτοις ȣ̍ δικαιολογια ἰσχυει.

Wer den
Vorſatz hat, einen Unſchuldigen zu unterdrücken,
der wird es zwar

μεϑ᾽ ἐυλογου ἀιτιας

zu thun ſuchen;
er wird einen ſcheinbaren Vorwand wählen; aber

ſich
* Fab. Aeſop. 230.
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[148/0168] Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte, hat bey ſeiner Erklärung nur die erſte Fabel des Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als ein- mal, une des plus belles & des plus celebres de l’an- tiquité nennet. Es iſt wahr, in dieſer iſt die Hand- lung ein Unternehmen, das mit Wahl und Abſicht geſchiehet. Der Wolf nimmt ſich vor, das Schaf zu zerreiſſen, fauce improba incitatus; er will es aber nicht ſo plump zu, er will es mit einem Schei- ne des Rechts thun, und alſo jurgii cauſam intulit. — Ich ſpreche dieſer Fabel ihr Lob nicht ab; ſie iſt ſo vollkommen, als ſie nur ſeyn kann. Allein ſie iſt nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung ein Unternehmen iſt, das mit Wahl und Abſicht geſchiehet; ſondern weil ſie ihrer Moral, die von einem ſolchen Unternehmen ſpricht, ein völliges Genüge thut. Die Moral iſt *: ὁις προϑεσις ἀδι- κειν, παρ᾿ ἀυτοις ȣ̍ δικαιολογια ἰσχυει. Wer den Vorſatz hat, einen Unſchuldigen zu unterdrücken, der wird es zwar μεϑ᾽ ἐυλογου ἀιτιας zu thun ſuchen; er wird einen ſcheinbaren Vorwand wählen; aber ſich * Fab. Aeſop. 230.

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/168>, abgerufen am 21.11.2024.