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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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wehle ein altes, um ohne Mißgunst Recht haben
zu können. Die Fabel nehmlich von dem Mann
und dem Satyr.

"Der Mann bläset in seine kal-
"te Hand, um seine Hand zu wärmen; und bläset
"in seinen heissen Brey, um seinen Brey zu kühlen.
"Was? sagt der Satyr; du bläsest aus einem Mun-
"de Warm und Kalt? Geh, mit dir mag ich nichts
"zu thun haben!*"

-- Diese Fabel soll lehren,

oti dei pheugein emas tas philias, onamphibolos esi[i][unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
e diathesis;

die Freundschaft aller Zweyzüngler, aller
Doppelleute, aller Falschen zu fliehen. Lehrt sie
das? Ich bin nicht der erste der es leugnet, und
die Fabel für schlecht ausgiebt. Richer ** sagt, sie
sündige wider die Richtigkeit der Allegorie; ihre
Moral sey weiter nichts als eine Anspielung, und
gründe sich auf eine blosse Zweydeutigkeit. Richer
hat richtig empfunden, aber seine Empfindung falsch
ausgedrückt. Der Fehler liegt nicht sowohl darinn,
daß die Allegorie nicht richtig genug ist, sondern

darinn,
* Fab. Aesop. 126.
** - - contre la justesse de l'allegorie. - - Sa morale n'est qu'u-
ne allusion, & n'est fondee que sur un jeu de mots equi-
voque. Fables nouvelle, Preface, p.
10.

wehle ein altes, um ohne Mißgunſt Recht haben
zu können. Die Fabel nehmlich von dem Mann
und dem Satyr.

„Der Mann bläſet in ſeine kal-
„te Hand, um ſeine Hand zu wärmen; und bläſet
„in ſeinen heiſſen Brey, um ſeinen Brey zu kühlen.
„Was? ſagt der Satyr; du bläſeſt aus einem Mun-
„de Warm und Kalt? Geh, mit dir mag ich nichts
„zu thun haben!*

— Dieſe Fabel ſoll lehren,

ὁτι δει φευγειν ἡμας τας φιλιας, ὡναμφιβολος ἐςι[ι][unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]
ἡ διαϑεσις;

die Freundſchaft aller Zweyzüngler, aller
Doppelleute, aller Falſchen zu fliehen. Lehrt ſie
das? Ich bin nicht der erſte der es leugnet, und
die Fabel für ſchlecht ausgiebt. Richer ** ſagt, ſie
ſündige wider die Richtigkeit der Allegorie; ihre
Moral ſey weiter nichts als eine Anſpielung, und
gründe ſich auf eine bloſſe Zweydeutigkeit. Richer
hat richtig empfunden, aber ſeine Empfindung falſch
ausgedrückt. Der Fehler liegt nicht ſowohl darinn,
daß die Allegorie nicht richtig genug iſt, ſondern

darinn,
* Fab. Aeſop. 126.
** ‒ ‒ contre la juſteſſe de l’allegorie. ‒ ‒ Sa morale n’eſt qu’u-
ne alluſion, & n’eſt fondée que ſur un jeu de mots équi-
voque. Fables nouvelle, Preface, p.
10.
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[128/0148] wehle ein altes, um ohne Mißgunſt Recht haben zu können. Die Fabel nehmlich von dem Mann und dem Satyr. „Der Mann bläſet in ſeine kal- „te Hand, um ſeine Hand zu wärmen; und bläſet „in ſeinen heiſſen Brey, um ſeinen Brey zu kühlen. „Was? ſagt der Satyr; du bläſeſt aus einem Mun- „de Warm und Kalt? Geh, mit dir mag ich nichts „zu thun haben! *„ — Dieſe Fabel ſoll lehren, ὁτι δει φευγειν ἡμας τας φιλιας, ὡναμφιβολος ἐςιι_ ἡ διαϑεσις; die Freundſchaft aller Zweyzüngler, aller Doppelleute, aller Falſchen zu fliehen. Lehrt ſie das? Ich bin nicht der erſte der es leugnet, und die Fabel für ſchlecht ausgiebt. Richer ** ſagt, ſie ſündige wider die Richtigkeit der Allegorie; ihre Moral ſey weiter nichts als eine Anſpielung, und gründe ſich auf eine bloſſe Zweydeutigkeit. Richer hat richtig empfunden, aber ſeine Empfindung falſch ausgedrückt. Der Fehler liegt nicht ſowohl darinn, daß die Allegorie nicht richtig genug iſt, ſondern darinn, * Fab. Aeſop. 126. ** ‒ ‒ contre la juſteſſe de l’allegorie. ‒ ‒ Sa morale n’eſt qu’u- ne alluſion, & n’eſt fondée que ſur un jeu de mots équi- voque. Fables nouvelle, Preface, p. 10.

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/148>, abgerufen am 25.11.2024.