daraus? Dieses: daß sich auch ohne diese Re- geln der Zweck der Tragödie erreichen lasse; ja daß diese Regeln wohl gar Schuld seyn könnten, wenn man ihn weniger erreiche.
Und das hätte noch hingehen mögen! -- Aber mit diesen Regeln fing man an, alle Re- geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe- danterey zu erklären, dem Genie vorzuschreiben, was es thun, und was es nicht thun müsse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er- fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu ver- langen, daß jeder die Kunst aufs neue für sich erfinden solle.
Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beyzumessen, wenn ich glau- ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha- ben, diese Gährung des Geschmacks zu hem- men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nicht angelegner seyn lassen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne zu bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Fran- zosen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die sie über die schicklichste äußere Einrichtung des Drama bey dem Aristoteles fanden, haben sie
für
daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re- geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten, wenn man ihn weniger erreiche.
Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber mit dieſen Regeln fing man an, alle Re- geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe- danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben, was es thun, und was es nicht thun müſſe. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er- fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver- langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich erfinden ſolle.
Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau- ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha- ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem- men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Fran- zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſie
für
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0404"n="398"/>
daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re-<lb/>
geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja<lb/>
daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten,<lb/>
wenn man ihn weniger erreiche.</p><lb/><p>Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber<lb/>
mit <hirendition="#g">dieſen</hi> Regeln fing man an, <hirendition="#g">alle</hi> Re-<lb/>
geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe-<lb/>
danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben,<lb/>
was es thun, und was es nicht thun müſſe.<lb/>
Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er-<lb/>
fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu<lb/>
verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver-<lb/>
langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich<lb/>
erfinden ſolle.</p><lb/><p>Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt<lb/>
um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau-<lb/>
ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha-<lb/>
ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem-<lb/>
men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf<lb/>
ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir<lb/>
nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von<lb/>
der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu<lb/>
beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln<lb/>
des alten Drama mehr verkannt, als die Fran-<lb/>
zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die<lb/>ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des<lb/>
Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſie<lb/><fwplace="bottom"type="catch">für</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[398/0404]
daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re-
geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja
daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten,
wenn man ihn weniger erreiche.
Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber
mit dieſen Regeln fing man an, alle Re-
geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe-
danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben,
was es thun, und was es nicht thun müſſe.
Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er-
fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu
verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver-
langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich
erfinden ſolle.
Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt
um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau-
ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha-
ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem-
men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf
ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir
nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von
der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu
beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln
des alten Drama mehr verkannt, als die Fran-
zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die
ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des
Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſie
für
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/404>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.