pressen. Jch würde so arm, so kalt, so kurz- sichtig seyn, wenn ich nicht einigermaaßen ge- lernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu bor- gen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stär- ken. Jch bin daher immer beschämt oder ver- drüßlich geworden, wenn ich zum Nachtheil der Critik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Jch bin ein Lahmer, den eine Schmäh- schrist auf die Krücke unmöglich erbauen kann.
Doch freylich; wie die Krücke den Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: so auch die Critik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zu Stande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Cri- tik machen würde: so kostet es mich so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frey, von un- willkührlichen Zerstreuungen so ununterbrochen seyn, ich muß meine ganze Belesenheit so gegen- wärtig haben, ich muß bey jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Thea- ter mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter seyn kann, als ich.
Was
preſſen. Jch würde ſo arm, ſo kalt, ſo kurz- ſichtig ſeyn, wenn ich nicht einigermaaßen ge- lernt hätte, fremde Schätze beſcheiden zu bor- gen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläſer der Kunſt mein Auge zu ſtär- ken. Jch bin daher immer beſchämt oder ver- drüßlich geworden, wenn ich zum Nachtheil der Critik etwas las oder hörte. Sie ſoll das Genie erſticken: und ich ſchmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie ſehr nahe kömmt. Jch bin ein Lahmer, den eine Schmäh- ſchriſt auf die Krücke unmöglich erbauen kann.
Doch freylich; wie die Krücke den Lahmen wohl hilft, ſich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: ſo auch die Critik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zu Stande bringe, welches beſſer iſt, als es einer von meinen Talenten ohne Cri- tik machen würde: ſo koſtet es mich ſo viel Zeit, ich muß von andern Geſchäften ſo frey, von un- willkührlichen Zerſtreuungen ſo ununterbrochen ſeyn, ich muß meine ganze Beleſenheit ſo gegen- wärtig haben, ich muß bey jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenſchaften gemacht, ſo ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Thea- ter mit Neuigkeiten unterhalten ſoll, niemand in der Welt ungeſchickter ſeyn kann, als ich.
Was
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preſſen. Jch würde ſo arm, ſo kalt, ſo kurz-
ſichtig ſeyn, wenn ich nicht einigermaaßen ge-
lernt hätte, fremde Schätze beſcheiden zu bor-
gen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und
durch die Gläſer der Kunſt mein Auge zu ſtär-
ken. Jch bin daher immer beſchämt oder ver-
drüßlich geworden, wenn ich zum Nachtheil der
Critik etwas las oder hörte. Sie ſoll das Genie
erſticken: und ich ſchmeichelte mir, etwas von
ihr zu erhalten, was dem Genie ſehr nahe
kömmt. Jch bin ein Lahmer, den eine Schmäh-
ſchriſt auf die Krücke unmöglich erbauen kann.
Doch freylich; wie die Krücke den Lahmen
wohl hilft, ſich von einem Orte zum andern zu
bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen
kann: ſo auch die Critik. Wenn ich mit ihrer
Hülfe etwas zu Stande bringe, welches beſſer
iſt, als es einer von meinen Talenten ohne Cri-
tik machen würde: ſo koſtet es mich ſo viel Zeit,
ich muß von andern Geſchäften ſo frey, von un-
willkührlichen Zerſtreuungen ſo ununterbrochen
ſeyn, ich muß meine ganze Beleſenheit ſo gegen-
wärtig haben, ich muß bey jedem Schritte alle
Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/394>, abgerufen am 18.12.2024.
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