Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Plutarch, (*) daß sie mit seinen spätern und
letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewe-
sen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, könne
man schliessen, was er noch würde geleistet ha-
ben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie
jung meint man wohl, daß Menander starb?
Wie viel Komödien meint man wohl, daß er
erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hun-
dert und fünfe; und nicht jünger als zwey und
funfzig.

Keiner von allen unsern verstorbenen komi-
schen Dichtern, von denen es sich noch der Mühe
verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner
von den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner
von beiden hat das vierte Theil so viel Stücke
gemacht. Und die Critik sollte von ihnen nicht
eben das zu sagen haben, was sie von dem Me-
nander zu sagen fand? -- Sie wage es aber nur,
und spreche!

Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie
mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel
sey Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Critikern,
deren beste Critik darinn besteht, -- alle Critik
verdächtig zu machen. "Genie! Genie! schreien
sie. Das Genie setzt sich über alle Regeln hin-
weg! Was das Genie macht, ist Regel!"
So schmeicheln sie dem Genie: ich glaube, da-

mit
(*) Epit. tes sunkriseos Aris. kai Menan.
p. 1588. Ed. Henr. Stephani.

Plutarch, (*) daß ſie mit ſeinen ſpätern und
letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewe-
ſen. Aus dieſen aber, ſetzt er hinzu, könne
man ſchlieſſen, was er noch würde geleiſtet ha-
ben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie
jung meint man wohl, daß Menander ſtarb?
Wie viel Komödien meint man wohl, daß er
erſt geſchrieben hatte? Nicht weniger als hun-
dert und fünfe; und nicht jünger als zwey und
funfzig.

Keiner von allen unſern verſtorbenen komi-
ſchen Dichtern, von denen es ſich noch der Mühe
verlohnte zu reden, iſt ſo alt geworden; keiner
von den itztlebenden iſt es noch zur Zeit; keiner
von beiden hat das vierte Theil ſo viel Stücke
gemacht. Und die Critik ſollte von ihnen nicht
eben das zu ſagen haben, was ſie von dem Me-
nander zu ſagen fand? — Sie wage es aber nur,
und ſpreche!

Und nicht die Verfaſſer allein ſind es, die ſie
mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel
ſey Dank, itzt ein Geſchlecht ſelbſt von Critikern,
deren beſte Critik darinn beſteht, — alle Critik
verdächtig zu machen. „Genie! Genie! ſchreien
ſie. Das Genie ſetzt ſich über alle Regeln hin-
weg! Was das Genie macht, iſt Regel!„
So ſchmeicheln ſie dem Genie: ich glaube, da-

mit
(*) Επιτ. της συνϰϱισεως Αρις. ϰαι Μεναν.
p. 1588. Ed. Henr. Stephani.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0354" n="348"/>
Plutarch, <note place="foot" n="(*)">&#x0395;&#x03C0;&#x03B9;&#x03C4;. &#x03C4;&#x03B7;&#x03C2; &#x03C3;&#x03C5;&#x03BD;&#x03F0;&#x03F1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03B5;&#x03C9;&#x03C2; &#x0391;&#x03C1;&#x03B9;&#x03C2;. &#x03F0;&#x03B1;&#x03B9; &#x039C;&#x03B5;&#x03BD;&#x03B1;&#x03BD;.<lb/><hi rendition="#aq">p. 1588. Ed. Henr. Stephani.</hi></note> daß &#x017F;ie mit &#x017F;einen &#x017F;pätern und<lb/>
letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewe-<lb/>
&#x017F;en. Aus die&#x017F;en aber, &#x017F;etzt er hinzu, könne<lb/>
man &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, was er noch würde gelei&#x017F;tet ha-<lb/>
ben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie<lb/>
jung meint man wohl, daß Menander &#x017F;tarb?<lb/>
Wie viel Komödien meint man wohl, daß er<lb/>
er&#x017F;t ge&#x017F;chrieben hatte? Nicht weniger als hun-<lb/>
dert und fünfe; und nicht jünger als zwey und<lb/>
funfzig.</p><lb/>
        <p>Keiner von allen un&#x017F;ern ver&#x017F;torbenen komi-<lb/>
&#x017F;chen Dichtern, von denen es &#x017F;ich noch der Mühe<lb/>
verlohnte zu reden, i&#x017F;t &#x017F;o alt geworden; keiner<lb/>
von den itztlebenden i&#x017F;t es noch zur Zeit; keiner<lb/>
von beiden hat das vierte Theil &#x017F;o viel Stücke<lb/>
gemacht. Und die Critik &#x017F;ollte von ihnen nicht<lb/>
eben das zu &#x017F;agen haben, was &#x017F;ie von dem Me-<lb/>
nander zu &#x017F;agen fand? &#x2014; Sie wage es aber nur,<lb/>
und &#x017F;preche!</p><lb/>
        <p>Und nicht die Verfa&#x017F;&#x017F;er allein &#x017F;ind es, die &#x017F;ie<lb/>
mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel<lb/>
&#x017F;ey Dank, itzt ein Ge&#x017F;chlecht &#x017F;elb&#x017F;t von Critikern,<lb/>
deren be&#x017F;te Critik darinn be&#x017F;teht, &#x2014; alle Critik<lb/>
verdächtig zu machen. &#x201E;Genie! Genie! &#x017F;chreien<lb/>
&#x017F;ie. Das Genie &#x017F;etzt &#x017F;ich über alle Regeln hin-<lb/>
weg! Was das Genie macht, i&#x017F;t Regel!&#x201E;<lb/>
So &#x017F;chmeicheln &#x017F;ie dem Genie: ich glaube, da-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0354] Plutarch, (*) daß ſie mit ſeinen ſpätern und letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewe- ſen. Aus dieſen aber, ſetzt er hinzu, könne man ſchlieſſen, was er noch würde geleiſtet ha- ben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie jung meint man wohl, daß Menander ſtarb? Wie viel Komödien meint man wohl, daß er erſt geſchrieben hatte? Nicht weniger als hun- dert und fünfe; und nicht jünger als zwey und funfzig. Keiner von allen unſern verſtorbenen komi- ſchen Dichtern, von denen es ſich noch der Mühe verlohnte zu reden, iſt ſo alt geworden; keiner von den itztlebenden iſt es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte Theil ſo viel Stücke gemacht. Und die Critik ſollte von ihnen nicht eben das zu ſagen haben, was ſie von dem Me- nander zu ſagen fand? — Sie wage es aber nur, und ſpreche! Und nicht die Verfaſſer allein ſind es, die ſie mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel ſey Dank, itzt ein Geſchlecht ſelbſt von Critikern, deren beſte Critik darinn beſteht, — alle Critik verdächtig zu machen. „Genie! Genie! ſchreien ſie. Das Genie ſetzt ſich über alle Regeln hin- weg! Was das Genie macht, iſt Regel!„ So ſchmeicheln ſie dem Genie: ich glaube, da- mit (*) Επιτ. της συνϰϱισεως Αρις. ϰαι Μεναν. p. 1588. Ed. Henr. Stephani.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/354
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/354>, abgerufen am 25.11.2024.