Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit
"dem menschlichen Geschlechte und mit den Wir-
"kungen der Leidenschaften im Ganzen bekannt
"ist, dabey ausrufen kann: das ist unwahr-
"scheinlich
? Dieses auszumachen, wird die
"abstrakte Theorie von wenig Nutzen seyn. So
"gar eine nur mäßige Bekanntschaft mit dem
"wirklichen Leben, ist hier nicht hinlänglich uns
"zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua
"bemerkt haben, welche den Poeten, der den
"Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das
"Aeußerste getrieben hätte, zu rechtfertigen
"scheinen. Selbst die Geschichte dürfte viel-
"leicht Exempel an die Hand geben, wo eine
"tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter
"getrieben worden, als es der Dichter hier vor-
"gestellet. Welches sind denn nun also die ei-
"gentlichen Grenzen derselben, und wodurch
"sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch
"Bemerkung so vieler einzeln Fälle als möglich;
"einzig und allein vermittelst der ausgebreitesten
"Kenntniß, wie viel eine solche Erbitterung
"über dergleichen Charaktere unter dergleichen
"Umständen, im wirklichen Leben gewöhnli-
"cher Weise
vermag. So verschieden diese
"Kenntniß in Ansehung ihres Umfanges ist, so
"verschieden wird denn auch die Art der Vor-
"stellung seyn. Und nun wollen wir sehen, wie
"der vorhabende Charakter von dem Euripides
"wirklich behandelt worden.

"Jn

„ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit
„dem menſchlichen Geſchlechte und mit den Wir-
„kungen der Leidenſchaften im Ganzen bekannt
„iſt, dabey ausrufen kann: das iſt unwahr-
„ſcheinlich
? Dieſes auszumachen, wird die
„abſtrakte Theorie von wenig Nutzen ſeyn. So
„gar eine nur mäßige Bekanntſchaft mit dem
„wirklichen Leben, iſt hier nicht hinlänglich uns
„zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua
„bemerkt haben, welche den Poeten, der den
„Ausdruck eines ſolchen Grolles bis auf das
„Aeußerſte getrieben hätte, zu rechtfertigen
„ſcheinen. Selbſt die Geſchichte dürfte viel-
„leicht Exempel an die Hand geben, wo eine
„tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter
„getrieben worden, als es der Dichter hier vor-
„geſtellet. Welches ſind denn nun alſo die ei-
„gentlichen Grenzen derſelben, und wodurch
„ſind ſie zu beſtimmen? Einzig und allein durch
„Bemerkung ſo vieler einzeln Fälle als möglich;
„einzig und allein vermittelſt der ausgebreiteſten
„Kenntniß, wie viel eine ſolche Erbitterung
„über dergleichen Charaktere unter dergleichen
„Umſtänden, im wirklichen Leben gewöhnli-
„cher Weiſe
vermag. So verſchieden dieſe
„Kenntniß in Anſehung ihres Umfanges iſt, ſo
„verſchieden wird denn auch die Art der Vor-
„ſtellung ſeyn. Und nun wollen wir ſehen, wie
„der vorhabende Charakter von dem Euripides
„wirklich behandelt worden.

„Jn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0344" n="338"/>
&#x201E;ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit<lb/>
&#x201E;dem men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;chlechte und mit den Wir-<lb/>
&#x201E;kungen der Leiden&#x017F;chaften im Ganzen bekannt<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t, dabey ausrufen kann: <hi rendition="#g">das i&#x017F;t unwahr-<lb/>
&#x201E;&#x017F;cheinlich</hi>? Die&#x017F;es auszumachen, wird die<lb/>
&#x201E;ab&#x017F;trakte Theorie von wenig Nutzen &#x017F;eyn. So<lb/>
&#x201E;gar eine nur mäßige Bekannt&#x017F;chaft mit dem<lb/>
&#x201E;wirklichen Leben, i&#x017F;t hier nicht hinlänglich uns<lb/>
&#x201E;zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua<lb/>
&#x201E;bemerkt haben, welche den Poeten, der den<lb/>
&#x201E;Ausdruck eines &#x017F;olchen Grolles bis auf das<lb/>
&#x201E;Aeußer&#x017F;te getrieben hätte, zu rechtfertigen<lb/>
&#x201E;&#x017F;cheinen. Selb&#x017F;t die Ge&#x017F;chichte dürfte viel-<lb/>
&#x201E;leicht Exempel an die Hand geben, wo eine<lb/>
&#x201E;tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter<lb/>
&#x201E;getrieben worden, als es der Dichter hier vor-<lb/>
&#x201E;ge&#x017F;tellet. Welches &#x017F;ind denn nun al&#x017F;o die ei-<lb/>
&#x201E;gentlichen Grenzen der&#x017F;elben, und wodurch<lb/>
&#x201E;&#x017F;ind &#x017F;ie zu be&#x017F;timmen? Einzig und allein durch<lb/>
&#x201E;Bemerkung &#x017F;o vieler einzeln Fälle als möglich;<lb/>
&#x201E;einzig und allein vermittel&#x017F;t der ausgebreite&#x017F;ten<lb/>
&#x201E;Kenntniß, wie viel eine &#x017F;olche Erbitterung<lb/>
&#x201E;über dergleichen Charaktere unter dergleichen<lb/>
&#x201E;Um&#x017F;tänden, im wirklichen Leben <hi rendition="#g">gewöhnli-<lb/>
&#x201E;cher Wei&#x017F;e</hi> vermag. So ver&#x017F;chieden die&#x017F;e<lb/>
&#x201E;Kenntniß in An&#x017F;ehung ihres Umfanges i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
&#x201E;ver&#x017F;chieden wird denn auch die Art der Vor-<lb/>
&#x201E;&#x017F;tellung &#x017F;eyn. Und nun wollen wir &#x017F;ehen, wie<lb/>
&#x201E;der vorhabende Charakter von dem Euripides<lb/>
&#x201E;wirklich behandelt worden.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">&#x201E;Jn</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[338/0344] „ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit „dem menſchlichen Geſchlechte und mit den Wir- „kungen der Leidenſchaften im Ganzen bekannt „iſt, dabey ausrufen kann: das iſt unwahr- „ſcheinlich? Dieſes auszumachen, wird die „abſtrakte Theorie von wenig Nutzen ſeyn. So „gar eine nur mäßige Bekanntſchaft mit dem „wirklichen Leben, iſt hier nicht hinlänglich uns „zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua „bemerkt haben, welche den Poeten, der den „Ausdruck eines ſolchen Grolles bis auf das „Aeußerſte getrieben hätte, zu rechtfertigen „ſcheinen. Selbſt die Geſchichte dürfte viel- „leicht Exempel an die Hand geben, wo eine „tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter „getrieben worden, als es der Dichter hier vor- „geſtellet. Welches ſind denn nun alſo die ei- „gentlichen Grenzen derſelben, und wodurch „ſind ſie zu beſtimmen? Einzig und allein durch „Bemerkung ſo vieler einzeln Fälle als möglich; „einzig und allein vermittelſt der ausgebreiteſten „Kenntniß, wie viel eine ſolche Erbitterung „über dergleichen Charaktere unter dergleichen „Umſtänden, im wirklichen Leben gewöhnli- „cher Weiſe vermag. So verſchieden dieſe „Kenntniß in Anſehung ihres Umfanges iſt, ſo „verſchieden wird denn auch die Art der Vor- „ſtellung ſeyn. Und nun wollen wir ſehen, wie „der vorhabende Charakter von dem Euripides „wirklich behandelt worden. „Jn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/344
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/344>, abgerufen am 25.11.2024.