"belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk- "lichen Natur, und nicht, wie die Jtalienische, "von dem geistigen Jdeale der Schönheit ent- "lehnet. (*) Jenes aber entspricht einem an- "dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder- "ländischen Meistern vorwirft, und der dieser "ist, daß sie lieber die besondere, seltsame und "groteske, als die allgemeine und reitzende Na- "tur, sich zum Vorbilde wählen.
"Wir sehen also, daß der Dichter, indem er "sich von der eigenen und besondern Wahrheit "entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahr- "heit nachahmet. Und hieraus ergiebt sich die "Antwort auf jenen spitzfindigen Einwurf, den "Plato gegen die Poesie ausgegrübelt hatte, und "nicht ohne Selbstzufriedenheit vorzutragen "schien. Nehmlich, daß die poetische Nach- "ahmung uns die Wahrheit nur sehr von wei- "tem zeigen könne. Denn, der poetische "Ausdruck, sagt der Philosoph, ist das "Abbild von des Dichters eigenen Be- "griffen; die Begriffe des Dichters
"sind
(*) Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret: sed ipsius in men- te incidebat species pulchritudi- nis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem & manum dirigebat. (Cic. Or. 2.)
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„belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk- „lichen Natur, und nicht, wie die Jtalieniſche, „von dem geiſtigen Jdeale der Schönheit ent- „lehnet. (*) Jenes aber entſpricht einem an- „dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder- „ländiſchen Meiſtern vorwirft, und der dieſer „iſt, daß ſie lieber die beſondere, ſeltſame und „groteſke, als die allgemeine und reitzende Na- „tur, ſich zum Vorbilde wählen.
„Wir ſehen alſo, daß der Dichter, indem er „ſich von der eigenen und beſondern Wahrheit „entfernet, deſto getreuer die allgemeine Wahr- „heit nachahmet. Und hieraus ergiebt ſich die „Antwort auf jenen ſpitzfindigen Einwurf, den „Plato gegen die Poeſie ausgegrübelt hatte, und „nicht ohne Selbſtzufriedenheit vorzutragen „ſchien. Nehmlich, daß die poetiſche Nach- „ahmung uns die Wahrheit nur ſehr von wei- „tem zeigen könne. Denn, der poetiſche „Ausdruck, ſagt der Philoſoph, iſt das „Abbild von des Dichters eigenen Be- „griffen; die Begriffe des Dichters
„ſind
(*) Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervæ, contemplabatur aliquem e quo ſimilitudinem duceret: ſed ipſius in men- te incidebat ſpecies pulchritudi- nis eximia quædam, quam intuens in eaque defixus ad illius ſimilitudinem artem & manum dirigebat. (Cic. Or. 2.)
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„belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk-
„lichen Natur, und nicht, wie die Jtalieniſche,
„von dem geiſtigen Jdeale der Schönheit ent-
„lehnet. (*) Jenes aber entſpricht einem an-
„dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder-
„ländiſchen Meiſtern vorwirft, und der dieſer
„iſt, daß ſie lieber die beſondere, ſeltſame und
„groteſke, als die allgemeine und reitzende Na-
„tur, ſich zum Vorbilde wählen.
„Wir ſehen alſo, daß der Dichter, indem er
„ſich von der eigenen und beſondern Wahrheit
„entfernet, deſto getreuer die allgemeine Wahr-
„heit nachahmet. Und hieraus ergiebt ſich die
„Antwort auf jenen ſpitzfindigen Einwurf, den
„Plato gegen die Poeſie ausgegrübelt hatte, und
„nicht ohne Selbſtzufriedenheit vorzutragen
„ſchien. Nehmlich, daß die poetiſche Nach-
„ahmung uns die Wahrheit nur ſehr von wei-
„tem zeigen könne. Denn, der poetiſche
„Ausdruck, ſagt der Philoſoph, iſt das
„Abbild von des Dichters eigenen Be-
„griffen; die Begriffe des Dichters
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(*) Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim
Phidias, cum faceret Jovis formam aut
Minervæ, contemplabatur aliquem e quo
ſimilitudinem duceret: ſed ipſius in men-
te incidebat ſpecies pulchritudi-
nis eximia quædam, quam intuens
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/337>, abgerufen am 16.02.2025.
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