Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll- kommnen Charaktere. Die Personen seiner Stände würden nie etwas anders thun, als was sie nach Pflicht und Gewissen thun müßten; sie würden handeln, völlig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir da- von hoffen dürfen, groß genug seyn, daß es sich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür fest zu setzen, und für diese eine eigene Dicht- kunst zu schreiben?
Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er- kundiget zu haben. Jn seinen Stücken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kri- tischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra- then. Man erinnere sich nur, was er, bey Gelegenheit des Contrasts unter den Charakte- ren, von den Brüdern des Terenz sagt. (*) "Die zwey contrastirten Väter darinn sind mit "so gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem "feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die "Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob "es Demea seyn soll? Fällt er sein Urtheil vor
"dem
(*) Jn der dr. Dichtkunst hinter dem Hausvater S. 358. d. Uebers.
Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll- kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner Stände würden nie etwas anders thun, als was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten; ſie würden handeln, völlig wie es im Buche ſteht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorſtellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir da- von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht- kunſt zu ſchreiben?
Die Klippe der vollkommenen Charaktere ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er- kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri- tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra- then. Man erinnere ſich nur, was er, bey Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte- ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. (*) „Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit „ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem „feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die „Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob „es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor
„dem
(*) Jn der dr. Dichtkunſt hinter dem Hausvater S. 358. d. Ueberſ.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0276"n="270"/>
Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll-<lb/>
kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner<lb/>
Stände würden nie etwas anders thun, als<lb/>
was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten;<lb/>ſie würden handeln, völlig wie es im Buche<lb/>ſteht. Erwarten wir das in der Komödie?<lb/>
Können dergleichen Vorſtellungen anziehend<lb/>
genug werden? Wird der Nutzen, den wir da-<lb/>
von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich<lb/>
der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür<lb/>
feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht-<lb/>
kunſt zu ſchreiben?</p><lb/><p>Die Klippe der vollkommenen Charaktere<lb/>ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er-<lb/>
kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert<lb/>
er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri-<lb/>
tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine<lb/>
Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge<lb/>
darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra-<lb/>
then. Man erinnere ſich nur, was er, bey<lb/>
Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte-<lb/>
ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. <noteplace="foot"n="(*)">Jn der dr. Dichtkunſt hinter dem Hausvater<lb/>
S. 358. d. Ueberſ.</note><lb/>„Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit<lb/>„ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem<lb/>„feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die<lb/>„Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob<lb/>„es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„dem</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[270/0276]
Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll-
kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner
Stände würden nie etwas anders thun, als
was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten;
ſie würden handeln, völlig wie es im Buche
ſteht. Erwarten wir das in der Komödie?
Können dergleichen Vorſtellungen anziehend
genug werden? Wird der Nutzen, den wir da-
von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich
der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür
feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht-
kunſt zu ſchreiben?
Die Klippe der vollkommenen Charaktere
ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er-
kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert
er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri-
tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine
Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge
darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra-
then. Man erinnere ſich nur, was er, bey
Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte-
ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. (*)
„Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit
„ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem
„feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die
„Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob
„es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor
„dem
(*) Jn der dr. Dichtkunſt hinter dem Hausvater
S. 358. d. Ueberſ.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/276>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.