Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

den die Stände denn dieser Verlegenheit abhel-
fen? Man wähle einmal einen; z. E. den
Stand des Richters. Werde ich ihm denn,
dem Richter, nicht einen Charakter geben müs-
sen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernst-
haft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch
seyn müssen? Wird es nicht blos dieser Cha-
rakter seyn, der ihn aus der Klasse metaphysi-
scher Abstrakte heraushebt, und eine wirkliche
Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die
Grundlage der Jntrigue und die Moral des
Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen?
Wird nicht folglich wiederum der Stand nur
das Zufällige seyn?

Zwar könnte Diderot hierauf antworten:
Freylich muß die Person, welche ich mit dem
Stande bekleide, auch ihren individuellen mo-
ralischen Charakter haben; aber ich will, daß
es ein solcher seyn soll, der mit den Pflichten
und Verhältnissen des Standes nicht streitet,
sondern aufs beste harmoniret. Also, wenn diese
Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frey,
ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig
oder stürmisch machen will: er muß nothwendig
ernsthaft und leutselig seyn, und jedesmal es in
dem Grade seyn, den das vorhabende Geschäfte
erfodert.

Dieses, sage ich, könnte Diderot antwor-
ten: aber zugleich hätte er sich einer andern

Klippe
L l 3

den die Stände denn dieſer Verlegenheit abhel-
fen? Man wähle einmal einen; z. E. den
Stand des Richters. Werde ich ihm denn,
dem Richter, nicht einen Charakter geben müſ-
ſen? Wird er nicht traurig oder luſtig, ernſt-
haft oder leichtſinnig, leutſelig oder ſtürmiſch
ſeyn müſſen? Wird es nicht blos dieſer Cha-
rakter ſeyn, der ihn aus der Klaſſe metaphyſi-
ſcher Abſtrakte heraushebt, und eine wirkliche
Perſon aus ihm macht? Wird nicht folglich die
Grundlage der Jntrigue und die Moral des
Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen?
Wird nicht folglich wiederum der Stand nur
das Zufällige ſeyn?

Zwar könnte Diderot hierauf antworten:
Freylich muß die Perſon, welche ich mit dem
Stande bekleide, auch ihren individuellen mo-
raliſchen Charakter haben; aber ich will, daß
es ein ſolcher ſeyn ſoll, der mit den Pflichten
und Verhältniſſen des Standes nicht ſtreitet,
ſondern aufs beſte harmoniret. Alſo, wenn dieſe
Perſon ein Richter iſt, ſo ſteht es mir nicht frey,
ob ich ihn ernſthaft oder leichtſinnig, leutſelig
oder ſtürmiſch machen will: er muß nothwendig
ernſthaft und leutſelig ſeyn, und jedesmal es in
dem Grade ſeyn, den das vorhabende Geſchäfte
erfodert.

Dieſes, ſage ich, könnte Diderot antwor-
ten: aber zugleich hätte er ſich einer andern

Klippe
L l 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0275" n="269"/>
den die Stände denn die&#x017F;er Verlegenheit abhel-<lb/>
fen? Man wähle einmal einen; z. E. den<lb/>
Stand des Richters. Werde ich ihm denn,<lb/>
dem Richter, nicht einen Charakter geben mü&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en? Wird er nicht traurig oder lu&#x017F;tig, ern&#x017F;t-<lb/>
haft oder leicht&#x017F;innig, leut&#x017F;elig oder &#x017F;türmi&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;eyn mü&#x017F;&#x017F;en? Wird es nicht blos die&#x017F;er Cha-<lb/>
rakter &#x017F;eyn, der ihn aus der Kla&#x017F;&#x017F;e metaphy&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;cher Ab&#x017F;trakte heraushebt, und eine wirkliche<lb/>
Per&#x017F;on aus ihm macht? Wird nicht folglich die<lb/>
Grundlage der Jntrigue und die Moral des<lb/>
Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen?<lb/>
Wird nicht folglich wiederum der Stand nur<lb/>
das Zufällige &#x017F;eyn?</p><lb/>
        <p>Zwar könnte Diderot hierauf antworten:<lb/>
Freylich muß die Per&#x017F;on, welche ich mit dem<lb/>
Stande bekleide, auch ihren individuellen mo-<lb/>
rali&#x017F;chen Charakter haben; aber ich will, daß<lb/>
es ein &#x017F;olcher &#x017F;eyn &#x017F;oll, der mit den Pflichten<lb/>
und Verhältni&#x017F;&#x017F;en des Standes nicht &#x017F;treitet,<lb/>
&#x017F;ondern aufs be&#x017F;te harmoniret. Al&#x017F;o, wenn die&#x017F;e<lb/>
Per&#x017F;on ein Richter i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;teht es mir nicht frey,<lb/>
ob ich ihn ern&#x017F;thaft oder leicht&#x017F;innig, leut&#x017F;elig<lb/>
oder &#x017F;türmi&#x017F;ch machen will: er muß nothwendig<lb/>
ern&#x017F;thaft und leut&#x017F;elig &#x017F;eyn, und jedesmal es in<lb/>
dem Grade &#x017F;eyn, den das vorhabende Ge&#x017F;chäfte<lb/>
erfodert.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es, &#x017F;age ich, könnte Diderot antwor-<lb/>
ten: aber zugleich hätte er &#x017F;ich einer andern<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L l 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Klippe</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0275] den die Stände denn dieſer Verlegenheit abhel- fen? Man wähle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben müſ- ſen? Wird er nicht traurig oder luſtig, ernſt- haft oder leichtſinnig, leutſelig oder ſtürmiſch ſeyn müſſen? Wird es nicht blos dieſer Cha- rakter ſeyn, der ihn aus der Klaſſe metaphyſi- ſcher Abſtrakte heraushebt, und eine wirkliche Perſon aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Jntrigue und die Moral des Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufällige ſeyn? Zwar könnte Diderot hierauf antworten: Freylich muß die Perſon, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen mo- raliſchen Charakter haben; aber ich will, daß es ein ſolcher ſeyn ſoll, der mit den Pflichten und Verhältniſſen des Standes nicht ſtreitet, ſondern aufs beſte harmoniret. Alſo, wenn dieſe Perſon ein Richter iſt, ſo ſteht es mir nicht frey, ob ich ihn ernſthaft oder leichtſinnig, leutſelig oder ſtürmiſch machen will: er muß nothwendig ernſthaft und leutſelig ſeyn, und jedesmal es in dem Grade ſeyn, den das vorhabende Geſchäfte erfodert. Dieſes, ſage ich, könnte Diderot antwor- ten: aber zugleich hätte er ſich einer andern Klippe L l 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/275
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/275>, abgerufen am 25.11.2024.