desselben verbirgt! Die Folgen sind zufällig; und die Erfahrung lehrt, daß sie eben so oft glück- lich als unglücklich fallen. Dieses bezieht sich auf die Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht mit jenem trügerischen Glanze zu verbin- den. Die falsche Folie, die so dem Laster un- tergelegt wird, macht daß ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine sind; macht, daß ich Mitt- leiden habe, wo ich keines haben sollte. -- Zwar hat schon Dacier dieser Erklärung widerspro- chen, aber aus untriftigern Gründen; und es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem Pater Le Bossu dafür annimmt, nicht eben so nachtheilig ist, wenigstens den poetischen Voll- kommenheiten des Stücks eben so nachtheilig werden kann. Er meinet nehmlich, "die Sit- "ten sollen gut seyn," heisse nichts mehr als, sie sollen gut ausgedrückt seyn, qu'elles soient bien marquees. Das ist allerdings eine Re- gel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle, aller Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters würdig ist. Aber wenn es die französischen Muster nur nicht bewiesen, daß man "gut aus- drücken" für stark ausdrücken genommen hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man hat Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakte- risirten Personen, personifirte Charaktere; aus
laster-
deſſelben verbirgt! Die Folgen ſind zufällig; und die Erfahrung lehrt, daß ſie eben ſo oft glück- lich als unglücklich fallen. Dieſes bezieht ſich auf die Reinigung der Leidenſchaften, wie ſie Corneille ſich dachte. Wie ich mir ſie vorſtelle, wie ſie Ariſtoteles gelehrt hat, iſt ſie vollends nicht mit jenem trügeriſchen Glanze zu verbin- den. Die falſche Folie, die ſo dem Laſter un- tergelegt wird, macht daß ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine ſind; macht, daß ich Mitt- leiden habe, wo ich keines haben ſollte. — Zwar hat ſchon Dacier dieſer Erklärung widerſpro- chen, aber aus untriftigern Gründen; und es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem Pater Le Boſſu dafür annimmt, nicht eben ſo nachtheilig iſt, wenigſtens den poetiſchen Voll- kommenheiten des Stücks eben ſo nachtheilig werden kann. Er meinet nehmlich, „die Sit- „ten ſollen gut ſeyn,„ heiſſe nichts mehr als, ſie ſollen gut ausgedrückt ſeyn, qu’elles ſoient bien marquées. Das iſt allerdings eine Re- gel, die, richtig verſtanden, an ihrer Stelle, aller Aufmerkſamkeit des dramatiſchen Dichters würdig iſt. Aber wenn es die franzöſiſchen Muſter nur nicht bewieſen, daß man „gut aus- drücken„ für ſtark ausdrücken genommen hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man hat Druck auf Druck geſetzt, bis aus charakte- riſirten Perſonen, perſonifirte Charaktere; aus
laſter-
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deſſelben verbirgt! Die Folgen ſind zufällig; und
die Erfahrung lehrt, daß ſie eben ſo oft glück-
lich als unglücklich fallen. Dieſes bezieht ſich
auf die Reinigung der Leidenſchaften, wie ſie
Corneille ſich dachte. Wie ich mir ſie vorſtelle,
wie ſie Ariſtoteles gelehrt hat, iſt ſie vollends
nicht mit jenem trügeriſchen Glanze zu verbin-
den. Die falſche Folie, die ſo dem Laſter un-
tergelegt wird, macht daß ich Vollkommenheiten
erkenne, wo keine ſind; macht, daß ich Mitt-
leiden habe, wo ich keines haben ſollte. — Zwar
hat ſchon Dacier dieſer Erklärung widerſpro-
chen, aber aus untriftigern Gründen; und
es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem
Pater Le Boſſu dafür annimmt, nicht eben ſo
nachtheilig iſt, wenigſtens den poetiſchen Voll-
kommenheiten des Stücks eben ſo nachtheilig
werden kann. Er meinet nehmlich, „die Sit-
„ten ſollen gut ſeyn,„ heiſſe nichts mehr als,
ſie ſollen gut ausgedrückt ſeyn, qu’elles ſoient
bien marquées. Das iſt allerdings eine Re-
gel, die, richtig verſtanden, an ihrer Stelle,
aller Aufmerkſamkeit des dramatiſchen Dichters
würdig iſt. Aber wenn es die franzöſiſchen
Muſter nur nicht bewieſen, daß man „gut aus-
drücken„ für ſtark ausdrücken genommen
hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/250>, abgerufen am 28.11.2024.
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