Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

glücke selbst, das jene unverschuldet trift; daß
sie einmal so unverschuldet trift als das andere,
ihre Verfolger mögen böse oder schwach seyn,
mögen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fal-
len. Der Gedanke ist an und für sich selbst
gräßlich, daß es Menschen geben kann, die
ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die
Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so
weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich:
und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns
an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen?
wir? die Religion und Vernunft überzeuget
haben sollte, daß er eben so unrichtig als got-
teslästerlich ist? -- Das nehmliche würde sicher-
lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn
sie Corneille nicht selbst näher anzugeben, ver-
gessen hätte.

5. Auch gegen das, was Aristoteles von der
Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tra-
gischen Helden sagt, als dessen Unglück weder
Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor-
neille seine Läuterungen bey. Mitleid zwar,
gesteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht
allerdings. Denn ob sich schon keiner von den
Zuschauern der Laster desselben fähig glaube,
und folglich auch desselben ganzes Unglück nicht
zu befürchten habe: so könne doch ein jeder ir-
gend eine jenen Lastern ähnliche Unvollkommen-
heit bey sich hegen, und durch die Furcht vor

den

glücke ſelbſt, das jene unverſchuldet trift; daß
ſie einmal ſo unverſchuldet trift als das andere,
ihre Verfolger mögen böſe oder ſchwach ſeyn,
mögen mit oder ohne Vorſatz ihnen ſo hart fal-
len. Der Gedanke iſt an und für ſich ſelbſt
gräßlich, daß es Menſchen geben kann, die
ohne alle ihr Verſchulden unglücklich ſind. Die
Heiden hätten dieſen gräßlichen Gedanken ſo
weit von ſich zu entfernen geſucht, als möglich:
und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns
an Schauſpielen vergnügen, die ihn beſtätigen?
wir? die Religion und Vernunft überzeuget
haben ſollte, daß er eben ſo unrichtig als got-
tesläſterlich iſt? — Das nehmliche würde ſicher-
lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn
ſie Corneille nicht ſelbſt näher anzugeben, ver-
geſſen hätte.

5. Auch gegen das, was Ariſtoteles von der
Unſchicklichkeit eines ganz Laſterhaften zum tra-
giſchen Helden ſagt, als deſſen Unglück weder
Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor-
neille ſeine Läuterungen bey. Mitleid zwar,
geſteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht
allerdings. Denn ob ſich ſchon keiner von den
Zuſchauern der Laſter deſſelben fähig glaube,
und folglich auch deſſelben ganzes Unglück nicht
zu befürchten habe: ſo könne doch ein jeder ir-
gend eine jenen Laſtern ähnliche Unvollkommen-
heit bey ſich hegen, und durch die Furcht vor

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0244" n="238"/>
glücke &#x017F;elb&#x017F;t, das jene unver&#x017F;chuldet trift; daß<lb/>
&#x017F;ie einmal &#x017F;o unver&#x017F;chuldet trift als das andere,<lb/>
ihre Verfolger mögen bö&#x017F;e oder &#x017F;chwach &#x017F;eyn,<lb/>
mögen mit oder ohne Vor&#x017F;atz ihnen &#x017F;o hart fal-<lb/>
len. Der Gedanke i&#x017F;t an und für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
gräßlich, daß es Men&#x017F;chen geben kann, die<lb/>
ohne alle ihr Ver&#x017F;chulden unglücklich &#x017F;ind. Die<lb/>
Heiden hätten die&#x017F;en gräßlichen Gedanken &#x017F;o<lb/>
weit von &#x017F;ich zu entfernen ge&#x017F;ucht, als möglich:<lb/>
und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns<lb/>
an Schau&#x017F;pielen vergnügen, die ihn be&#x017F;tätigen?<lb/>
wir? die Religion und Vernunft überzeuget<lb/>
haben &#x017F;ollte, daß er eben &#x017F;o unrichtig als got-<lb/>
teslä&#x017F;terlich i&#x017F;t? &#x2014; Das nehmliche würde &#x017F;icher-<lb/>
lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn<lb/>
&#x017F;ie Corneille nicht &#x017F;elb&#x017F;t näher anzugeben, ver-<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en hätte.</p><lb/>
        <p>5. Auch gegen das, was Ari&#x017F;toteles von der<lb/>
Un&#x017F;chicklichkeit eines ganz La&#x017F;terhaften zum tra-<lb/>
gi&#x017F;chen Helden &#x017F;agt, als de&#x017F;&#x017F;en Unglück weder<lb/>
Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor-<lb/>
neille &#x017F;eine Läuterungen bey. Mitleid zwar,<lb/>
ge&#x017F;teht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht<lb/>
allerdings. Denn ob &#x017F;ich &#x017F;chon keiner von den<lb/>
Zu&#x017F;chauern der La&#x017F;ter de&#x017F;&#x017F;elben fähig glaube,<lb/>
und folglich auch de&#x017F;&#x017F;elben ganzes Unglück nicht<lb/>
zu befürchten habe: &#x017F;o könne doch ein jeder ir-<lb/>
gend eine jenen La&#x017F;tern ähnliche Unvollkommen-<lb/>
heit bey &#x017F;ich hegen, und durch die Furcht vor<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0244] glücke ſelbſt, das jene unverſchuldet trift; daß ſie einmal ſo unverſchuldet trift als das andere, ihre Verfolger mögen böſe oder ſchwach ſeyn, mögen mit oder ohne Vorſatz ihnen ſo hart fal- len. Der Gedanke iſt an und für ſich ſelbſt gräßlich, daß es Menſchen geben kann, die ohne alle ihr Verſchulden unglücklich ſind. Die Heiden hätten dieſen gräßlichen Gedanken ſo weit von ſich zu entfernen geſucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauſpielen vergnügen, die ihn beſtätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben ſollte, daß er eben ſo unrichtig als got- tesläſterlich iſt? — Das nehmliche würde ſicher- lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn ſie Corneille nicht ſelbſt näher anzugeben, ver- geſſen hätte. 5. Auch gegen das, was Ariſtoteles von der Unſchicklichkeit eines ganz Laſterhaften zum tra- giſchen Helden ſagt, als deſſen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor- neille ſeine Läuterungen bey. Mitleid zwar, geſteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob ſich ſchon keiner von den Zuſchauern der Laſter deſſelben fähig glaube, und folglich auch deſſelben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: ſo könne doch ein jeder ir- gend eine jenen Laſtern ähnliche Unvollkommen- heit bey ſich hegen, und durch die Furcht vor den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/244
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/244>, abgerufen am 22.11.2024.