Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

etwas anders ist, als dieser Unwille; daß wenn
auch dieser ganz wegfällt, jenes doch noch in sei-
nem vollen Maaße vorhanden seyn kann: ge-
nug, daß vors erste mit diesem Quid pro quo
verschiedene von seinen Stücken gerechtfertiget
scheinen, die er so wenig wider die Regeln des
Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr
vermessen genug ist, sich einzubilden, es habe
dem Aristoteles blos an dergleichen Stücken ge-
fehlt, um seine Lehre darnach näher einzuschrän-
ken, und verschiedene Manieren daraus zu ab-
strahiren, wie dem ohngeachtet das Unglück des
ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Ge-
genstand werden könne. En voici, sagt er,
deux ou trois manieres, que peut-etre
Aristote n'a sau prevoir, parce qu'on n'en
voyoit pas d'exemples sur les theatres de
son tems.
Und von wem sind diese Exempel?
Von wem anders, als von ihm selbst? Und
welches sind jene zwey oder drey Manieren?
Wir wollen geschwind sehen. -- "Die erste,
sagt er, "ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch
"einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Ge-
"fahr aber entkömmt, und so, daß der Laster-
"hafte sich selbst darinn verstricket, wie es in
"der Rodogune und im Heraklius geschiehet,
"wo es ganz unerträglich würde gewesen seyn,
"wenn in dem ersten Stücke Antiochus und Ro-
"dogune, und in dem andern Heraklius, Pul-

"cheria
G g 2

etwas anders iſt, als dieſer Unwille; daß wenn
auch dieſer ganz wegfällt, jenes doch noch in ſei-
nem vollen Maaße vorhanden ſeyn kann: ge-
nug, daß vors erſte mit dieſem Quid pro quo
verſchiedene von ſeinen Stücken gerechtfertiget
ſcheinen, die er ſo wenig wider die Regeln des
Ariſtoteles will gemacht haben, daß er vielmehr
vermeſſen genug iſt, ſich einzubilden, es habe
dem Ariſtoteles blos an dergleichen Stücken ge-
fehlt, um ſeine Lehre darnach näher einzuſchrän-
ken, und verſchiedene Manieren daraus zu ab-
ſtrahiren, wie dem ohngeachtet das Unglück des
ganz rechtſchaffenen Mannes ein tragiſcher Ge-
genſtand werden könne. En voici, ſagt er,
deux ou trois manières, que peut-ètre
Ariſtote n’a ſû prevoir, parce qu’on n’en
voyoit pas d’exemples ſur les théatres de
ſon tems.
Und von wem ſind dieſe Exempel?
Von wem anders, als von ihm ſelbſt? Und
welches ſind jene zwey oder drey Manieren?
Wir wollen geſchwind ſehen. — „Die erſte,
ſagt er, „iſt, wenn ein ſehr Tugendhafter durch
„einen ſehr Laſterhaften verfolgt wird, der Ge-
„fahr aber entkömmt, und ſo, daß der Laſter-
„hafte ſich ſelbſt darinn verſtricket, wie es in
„der Rodogune und im Heraklius geſchiehet,
„wo es ganz unerträglich würde geweſen ſeyn,
„wenn in dem erſten Stücke Antiochus und Ro-
„dogune, und in dem andern Heraklius, Pul-

„cheria
G g 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0241" n="235"/>
etwas anders i&#x017F;t, als die&#x017F;er Unwille; daß wenn<lb/>
auch die&#x017F;er ganz wegfällt, jenes doch noch in &#x017F;ei-<lb/>
nem vollen Maaße vorhanden &#x017F;eyn kann: ge-<lb/>
nug, daß vors er&#x017F;te mit die&#x017F;em <hi rendition="#aq">Quid pro quo</hi><lb/>
ver&#x017F;chiedene von &#x017F;einen Stücken gerechtfertiget<lb/>
&#x017F;cheinen, die er &#x017F;o wenig wider die Regeln des<lb/>
Ari&#x017F;toteles will gemacht haben, daß er vielmehr<lb/>
verme&#x017F;&#x017F;en genug i&#x017F;t, &#x017F;ich einzubilden, es habe<lb/>
dem Ari&#x017F;toteles blos an dergleichen Stücken ge-<lb/>
fehlt, um &#x017F;eine Lehre darnach näher einzu&#x017F;chrän-<lb/>
ken, und ver&#x017F;chiedene Manieren daraus zu ab-<lb/>
&#x017F;trahiren, wie dem ohngeachtet das Unglück des<lb/>
ganz recht&#x017F;chaffenen Mannes ein tragi&#x017F;cher Ge-<lb/>
gen&#x017F;tand werden könne. <hi rendition="#aq">En voici,</hi> &#x017F;agt er,<lb/><hi rendition="#aq">deux ou trois manières, que peut-ètre<lb/>
Ari&#x017F;tote n&#x2019;a &#x017F;û prevoir, parce qu&#x2019;on n&#x2019;en<lb/>
voyoit pas d&#x2019;exemples &#x017F;ur les théatres de<lb/>
&#x017F;on tems.</hi> Und von wem &#x017F;ind die&#x017F;e Exempel?<lb/>
Von wem anders, als von ihm &#x017F;elb&#x017F;t? Und<lb/>
welches &#x017F;ind jene zwey oder drey Manieren?<lb/>
Wir wollen ge&#x017F;chwind &#x017F;ehen. &#x2014; &#x201E;Die er&#x017F;te,<lb/>
&#x017F;agt er, &#x201E;i&#x017F;t, wenn ein &#x017F;ehr Tugendhafter durch<lb/>
&#x201E;einen &#x017F;ehr La&#x017F;terhaften verfolgt wird, der Ge-<lb/>
&#x201E;fahr aber entkömmt, und &#x017F;o, daß der La&#x017F;ter-<lb/>
&#x201E;hafte &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t darinn ver&#x017F;tricket, wie es in<lb/>
&#x201E;der Rodogune und im Heraklius ge&#x017F;chiehet,<lb/>
&#x201E;wo es ganz unerträglich würde gewe&#x017F;en &#x017F;eyn,<lb/>
&#x201E;wenn in dem er&#x017F;ten Stücke Antiochus und Ro-<lb/>
&#x201E;dogune, und in dem andern Heraklius, Pul-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;cheria</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0241] etwas anders iſt, als dieſer Unwille; daß wenn auch dieſer ganz wegfällt, jenes doch noch in ſei- nem vollen Maaße vorhanden ſeyn kann: ge- nug, daß vors erſte mit dieſem Quid pro quo verſchiedene von ſeinen Stücken gerechtfertiget ſcheinen, die er ſo wenig wider die Regeln des Ariſtoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermeſſen genug iſt, ſich einzubilden, es habe dem Ariſtoteles blos an dergleichen Stücken ge- fehlt, um ſeine Lehre darnach näher einzuſchrän- ken, und verſchiedene Manieren daraus zu ab- ſtrahiren, wie dem ohngeachtet das Unglück des ganz rechtſchaffenen Mannes ein tragiſcher Ge- genſtand werden könne. En voici, ſagt er, deux ou trois manières, que peut-ètre Ariſtote n’a ſû prevoir, parce qu’on n’en voyoit pas d’exemples ſur les théatres de ſon tems. Und von wem ſind dieſe Exempel? Von wem anders, als von ihm ſelbſt? Und welches ſind jene zwey oder drey Manieren? Wir wollen geſchwind ſehen. — „Die erſte, ſagt er, „iſt, wenn ein ſehr Tugendhafter durch „einen ſehr Laſterhaften verfolgt wird, der Ge- „fahr aber entkömmt, und ſo, daß der Laſter- „hafte ſich ſelbſt darinn verſtricket, wie es in „der Rodogune und im Heraklius geſchiehet, „wo es ganz unerträglich würde geweſen ſeyn, „wenn in dem erſten Stücke Antiochus und Ro- „dogune, und in dem andern Heraklius, Pul- „cheria G g 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/241
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/241>, abgerufen am 22.11.2024.