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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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stoteles habe sagen wollen: die Tragödie erwecke
unser Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken,
um durch diese Furcht die Leidenschaften in uns
zu reinigen, durch die sich der bemitleidete Ge-
genstand sein Unglück zugezogen. Jch will von
dem Werthe dieser Absicht nicht sprechen: ge-
nug, daß es nicht die aristotelische ist; und daß,
da Corneille seinen Tragödien eine ganz andere
Absicht gab, auch nothwendig seine Tragödien
selbst ganz andere Werke werden mußten, als
die waren, von welchen Aristoteles seine Absicht
abstrahiret hatte; es mußten Tragödien werden,
welches keine wahre Tragödien waren. Und
daß sind nicht allein seine, sondern alle französi-
sche Tragödien geworden; weil ihre Verfasser
alle, nicht die Absicht des Aristoteles, sondern
die Absicht des Corneille, sich vorsetzten. Jch
habe schon gesagt, daß Dacier beide Absichten
wollte verbunden wissen: aber auch durch diese
bloße Verbindung, wird die erstere geschwächt,
und die Tragödie muß unter ihrer höchsten Wir-
kung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich ge-
zeigt, von der erstern nur einen sehr unvollstän-
digen Begriff, und es war kein Wunder, wenn
er sich daher einbildete, daß die französischen
Tragödien seiner Zeit, noch eher die erste, als
die zweyte Absicht erreichten. "Unsere Tra-
"gödie, sagt er, ist, zu Folge jener, noch so
"ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu er-

"wecken

ſtoteles habe ſagen wollen: die Tragödie erwecke
unſer Mitleid, um unſere Furcht zu erwecken,
um durch dieſe Furcht die Leidenſchaften in uns
zu reinigen, durch die ſich der bemitleidete Ge-
genſtand ſein Unglück zugezogen. Jch will von
dem Werthe dieſer Abſicht nicht ſprechen: ge-
nug, daß es nicht die ariſtoteliſche iſt; und daß,
da Corneille ſeinen Tragödien eine ganz andere
Abſicht gab, auch nothwendig ſeine Tragödien
ſelbſt ganz andere Werke werden mußten, als
die waren, von welchen Ariſtoteles ſeine Abſicht
abſtrahiret hatte; es mußten Tragödien werden,
welches keine wahre Tragödien waren. Und
daß ſind nicht allein ſeine, ſondern alle franzöſi-
ſche Tragödien geworden; weil ihre Verfaſſer
alle, nicht die Abſicht des Ariſtoteles, ſondern
die Abſicht des Corneille, ſich vorſetzten. Jch
habe ſchon geſagt, daß Dacier beide Abſichten
wollte verbunden wiſſen: aber auch durch dieſe
bloße Verbindung, wird die erſtere geſchwächt,
und die Tragödie muß unter ihrer höchſten Wir-
kung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich ge-
zeigt, von der erſtern nur einen ſehr unvollſtän-
digen Begriff, und es war kein Wunder, wenn
er ſich daher einbildete, daß die franzöſiſchen
Tragödien ſeiner Zeit, noch eher die erſte, als
die zweyte Abſicht erreichten. „Unſere Tra-
„gödie, ſagt er, iſt, zu Folge jener, noch ſo
„ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu er-

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[230/0236] ſtoteles habe ſagen wollen: die Tragödie erwecke unſer Mitleid, um unſere Furcht zu erwecken, um durch dieſe Furcht die Leidenſchaften in uns zu reinigen, durch die ſich der bemitleidete Ge- genſtand ſein Unglück zugezogen. Jch will von dem Werthe dieſer Abſicht nicht ſprechen: ge- nug, daß es nicht die ariſtoteliſche iſt; und daß, da Corneille ſeinen Tragödien eine ganz andere Abſicht gab, auch nothwendig ſeine Tragödien ſelbſt ganz andere Werke werden mußten, als die waren, von welchen Ariſtoteles ſeine Abſicht abſtrahiret hatte; es mußten Tragödien werden, welches keine wahre Tragödien waren. Und daß ſind nicht allein ſeine, ſondern alle franzöſi- ſche Tragödien geworden; weil ihre Verfaſſer alle, nicht die Abſicht des Ariſtoteles, ſondern die Abſicht des Corneille, ſich vorſetzten. Jch habe ſchon geſagt, daß Dacier beide Abſichten wollte verbunden wiſſen: aber auch durch dieſe bloße Verbindung, wird die erſtere geſchwächt, und die Tragödie muß unter ihrer höchſten Wir- kung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich ge- zeigt, von der erſtern nur einen ſehr unvollſtän- digen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er ſich daher einbildete, daß die franzöſiſchen Tragödien ſeiner Zeit, noch eher die erſte, als die zweyte Abſicht erreichten. „Unſere Tra- „gödie, ſagt er, iſt, zu Folge jener, noch ſo „ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu er- „wecken

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/236>, abgerufen am 24.11.2024.