Wenn sich also der Dichter um die Verzierung
gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzie-
rung, auch wo sie nöthig scheinet, ohne beson-
dern Nachtheil seines Stücks wegbleiben kann:
warum sollte es an dem engen, schlechten Thea-
ter gelegen haben, daß uns die französischen
Dichter keine rührendere Stücke geliefert?
Nicht doch: es lag an ihnen selbst.
Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun
haben ja die Franzosen eine schönere, geräumli-
chere Bühne; keine Zuschauer werden mehr dar-
auf geduldet; die Coulissen sind leer; der Deco-
rateur hat freyes Feld; er mahlt und bauet dem
Poeten alles, was dieser von ihm verlangt: aber
wo sind sie denn die wärmern Stücke, die sie seit-
dem erhalten haben? Schmeichelt sich der Herr
von Voltaire, daß seine Semiramis ein solches
Stück ist? Da ist Pomp und Verzierung ge-
nug; ein Gespenst oben darein: und doch kenne
ich nichts kälteres, als seine Semiramis.
Ham-
Wenn ſich alſo der Dichter um die Verzierung
gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzie-
rung, auch wo ſie nöthig ſcheinet, ohne beſon-
dern Nachtheil ſeines Stücks wegbleiben kann:
warum ſollte es an dem engen, ſchlechten Thea-
ter gelegen haben, daß uns die franzöſiſchen
Dichter keine rührendere Stücke geliefert?
Nicht doch: es lag an ihnen ſelbſt.
Und das beweiſet die Erfahrung. Denn nun
haben ja die Franzoſen eine ſchönere, geräumli-
chere Bühne; keine Zuſchauer werden mehr dar-
auf geduldet; die Couliſſen ſind leer; der Deco-
rateur hat freyes Feld; er mahlt und bauet dem
Poeten alles, was dieſer von ihm verlangt: aber
wo ſind ſie denn die wärmern Stücke, die ſie ſeit-
dem erhalten haben? Schmeichelt ſich der Herr
von Voltaire, daß ſeine Semiramis ein ſolches
Stück iſt? Da iſt Pomp und Verzierung ge-
nug; ein Geſpenſt oben darein: und doch kenne
ich nichts kälteres, als ſeine Semiramis.
Ham-
<TEI>
<text>
<body>
<div n="1">
<pb facs="#f0230" n="224"/>
<p>Wenn ſich alſo der Dichter um die Verzierung<lb/>
gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzie-<lb/>
rung, auch wo ſie nöthig ſcheinet, ohne beſon-<lb/>
dern Nachtheil ſeines Stücks wegbleiben kann:<lb/>
warum ſollte es an dem engen, ſchlechten Thea-<lb/>
ter gelegen haben, daß uns die franzöſiſchen<lb/>
Dichter keine rührendere Stücke geliefert?<lb/>
Nicht doch: es lag an ihnen ſelbſt.</p><lb/>
<p>Und das beweiſet die Erfahrung. Denn nun<lb/>
haben ja die Franzoſen eine ſchönere, geräumli-<lb/>
chere Bühne; keine Zuſchauer werden mehr dar-<lb/>
auf geduldet; die Couliſſen ſind leer; der Deco-<lb/>
rateur hat freyes Feld; er mahlt und bauet dem<lb/>
Poeten alles, was dieſer von ihm verlangt: aber<lb/>
wo ſind ſie denn die wärmern Stücke, die ſie ſeit-<lb/>
dem erhalten haben? Schmeichelt ſich der Herr<lb/>
von Voltaire, daß ſeine Semiramis ein ſolches<lb/>
Stück iſt? Da iſt Pomp und Verzierung ge-<lb/>
nug; ein Geſpenſt oben darein: und doch kenne<lb/>
ich nichts kälteres, als ſeine Semiramis.</p><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Ham-</hi> </fw><lb/>
<p>
<note xml:id="seg2pn_21_2" prev="#seg2pn_21_1" place="foot" n="(*)">
<cit>
<quote> <hi rendition="#aq">ſucceſſive changes, in which the poets of<lb/>
thoſe times freely indulged themſelves,<lb/>
there was nothing to help the ſpectator’s<lb/>
underſtanding, or to afſiſt the actor’s per-<lb/>
formance, but bare imagination. — The<lb/>
ſpirit and judgement of the actors ſupplied<lb/>
all deficiencies, and made as ſome would<lb/>
inſinuate, plays more intelligible without<lb/>
ſcenes, than they afterwards were with<lb/>
them.</hi> </quote>
<bibl/>
</cit>
</note>
</p>
</div><lb/>
</body>
</text>
</TEI>
[224/0230]
Wenn ſich alſo der Dichter um die Verzierung
gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzie-
rung, auch wo ſie nöthig ſcheinet, ohne beſon-
dern Nachtheil ſeines Stücks wegbleiben kann:
warum ſollte es an dem engen, ſchlechten Thea-
ter gelegen haben, daß uns die franzöſiſchen
Dichter keine rührendere Stücke geliefert?
Nicht doch: es lag an ihnen ſelbſt.
Und das beweiſet die Erfahrung. Denn nun
haben ja die Franzoſen eine ſchönere, geräumli-
chere Bühne; keine Zuſchauer werden mehr dar-
auf geduldet; die Couliſſen ſind leer; der Deco-
rateur hat freyes Feld; er mahlt und bauet dem
Poeten alles, was dieſer von ihm verlangt: aber
wo ſind ſie denn die wärmern Stücke, die ſie ſeit-
dem erhalten haben? Schmeichelt ſich der Herr
von Voltaire, daß ſeine Semiramis ein ſolches
Stück iſt? Da iſt Pomp und Verzierung ge-
nug; ein Geſpenſt oben darein: und doch kenne
ich nichts kälteres, als ſeine Semiramis.
Ham-
(*)
(*) ſucceſſive changes, in which the poets of
thoſe times freely indulged themſelves,
there was nothing to help the ſpectator’s
underſtanding, or to afſiſt the actor’s per-
formance, but bare imagination. — The
ſpirit and judgement of the actors ſupplied
all deficiencies, and made as ſome would
inſinuate, plays more intelligible without
ſcenes, than they afterwards were with
them.