Schicksale der Menschen denken läßt, dem Mur- ren wider die Vorsehung sich zugesellet, und Verzweiflung von weiten nachschleicht, ist die- ser Jammer -- ich will nicht fragen, Mit- leid? -- Er heisse, wie er wolle -- Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte?
Man sage nicht: erweckt ihn doch die Ge- schichte; gründet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist. -- Das wirklich geschehen ist? es sey: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben. Jn diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, deren- wegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schö- pfers seyn; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen: und er vergißt, diese seine edelste Bestimmung so sehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in sei-
nem
Schickſale der Menſchen denken läßt, dem Mur- ren wider die Vorſehung ſich zugeſellet, und Verzweiflung von weiten nachſchleicht, iſt die- ſer Jammer — ich will nicht fragen, Mit- leid? — Er heiſſe, wie er wolle — Aber iſt er das, was eine nachahmende Kunſt erwecken ſollte?
Man ſage nicht: erweckt ihn doch die Ge- ſchichte; gründet er ſich doch auf etwas, das wirklich geſchehen iſt. — Das wirklich geſchehen iſt? es ſey: ſo wird es ſeinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zuſammenhange aller Dinge haben. Jn dieſem iſt Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimt, blindes Geſchick und Grauſamkeit ſcheinet. Aus dieſen wenigen Gliedern ſollte er ein Ganzes machen, das völlig ſich rundet, wo eines aus dem andern ſich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufſtößt, deren- wegen wir die Befriedigung nicht in ſeinem Plane finden, ſondern ſie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, ſuchen müſſen; das Ganze dieſes ſterblichen Schöpfers ſollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schö- pfers ſeyn; ſollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie ſich in ihm alles zum Beſten auflöſe, werde es auch in jenem geſchehen: und er vergißt, dieſe ſeine edelſte Beſtimmung ſo ſehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorſicht mit in ſei-
nem
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0218"n="212"/>
Schickſale der Menſchen denken läßt, dem Mur-<lb/>
ren wider die Vorſehung ſich zugeſellet, und<lb/>
Verzweiflung von weiten nachſchleicht, iſt die-<lb/>ſer Jammer — ich will nicht fragen, Mit-<lb/>
leid? — Er heiſſe, wie er wolle — Aber iſt er<lb/>
das, was eine nachahmende Kunſt erwecken<lb/>ſollte?</p><lb/><p>Man ſage nicht: erweckt ihn doch die Ge-<lb/>ſchichte; gründet er ſich doch auf etwas, das<lb/>
wirklich geſchehen iſt. — Das wirklich geſchehen<lb/>
iſt? es ſey: ſo wird es ſeinen guten Grund<lb/>
in dem ewigen unendlichen Zuſammenhange aller<lb/>
Dinge haben. Jn dieſem iſt Weisheit und<lb/>
Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die<lb/>
der Dichter herausnimt, blindes Geſchick und<lb/>
Grauſamkeit ſcheinet. Aus dieſen wenigen<lb/>
Gliedern ſollte er ein Ganzes machen, das völlig<lb/>ſich rundet, wo eines aus dem andern ſich völlig<lb/>
erkläret, wo keine Schwierigkeit aufſtößt, deren-<lb/>
wegen wir die Befriedigung nicht in ſeinem<lb/>
Plane finden, ſondern ſie außer ihm, in dem<lb/>
allgemeinen Plane der Dinge, ſuchen müſſen;<lb/>
das Ganze dieſes ſterblichen Schöpfers ſollte ein<lb/>
Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schö-<lb/>
pfers ſeyn; ſollte uns an den Gedanken gewöhnen,<lb/>
wie ſich in ihm alles zum Beſten auflöſe, werde<lb/>
es auch in jenem geſchehen: und er vergißt,<lb/>
dieſe ſeine edelſte Beſtimmung ſo ſehr, daß er<lb/>
die unbegreiflichen Wege der Vorſicht mit in ſei-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nem</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[212/0218]
Schickſale der Menſchen denken läßt, dem Mur-
ren wider die Vorſehung ſich zugeſellet, und
Verzweiflung von weiten nachſchleicht, iſt die-
ſer Jammer — ich will nicht fragen, Mit-
leid? — Er heiſſe, wie er wolle — Aber iſt er
das, was eine nachahmende Kunſt erwecken
ſollte?
Man ſage nicht: erweckt ihn doch die Ge-
ſchichte; gründet er ſich doch auf etwas, das
wirklich geſchehen iſt. — Das wirklich geſchehen
iſt? es ſey: ſo wird es ſeinen guten Grund
in dem ewigen unendlichen Zuſammenhange aller
Dinge haben. Jn dieſem iſt Weisheit und
Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die
der Dichter herausnimt, blindes Geſchick und
Grauſamkeit ſcheinet. Aus dieſen wenigen
Gliedern ſollte er ein Ganzes machen, das völlig
ſich rundet, wo eines aus dem andern ſich völlig
erkläret, wo keine Schwierigkeit aufſtößt, deren-
wegen wir die Befriedigung nicht in ſeinem
Plane finden, ſondern ſie außer ihm, in dem
allgemeinen Plane der Dinge, ſuchen müſſen;
das Ganze dieſes ſterblichen Schöpfers ſollte ein
Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schö-
pfers ſeyn; ſollte uns an den Gedanken gewöhnen,
wie ſich in ihm alles zum Beſten auflöſe, werde
es auch in jenem geſchehen: und er vergißt,
dieſe ſeine edelſte Beſtimmung ſo ſehr, daß er
die unbegreiflichen Wege der Vorſicht mit in ſei-
nem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/218>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.