Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.
Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt
gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und
auch diesen nur zur Helfte erläutert. Denn wer
sich um einen richtigen und vollständigen Begriff
von der Aristotelischen Reinigung der Leiden-
schaften bemüht hat, wird finden, daß jeder
von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in
sich schliesset. Da nehmlich, es kurz zu sagen,
diese Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenschaften in tu-
gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber,
nach unserm Philosophen, sich disseits und jen-
seits ein Extremum findet, zwischen welchem sie
inne stehet: so muß die Tragödie, wenn sie un-
ser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von
beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver-
mögend seyn; welches auch von der Furcht zu
verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht
allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele
desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid
fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu
wenig empfindet. Die tragische Furcht muß
nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele
desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar
keines Unglücks befürchtet, sondern auch desje-
nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern-
teste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst
setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid,

in

Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.
Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt
gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und
auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer
ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff
von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden-
ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder
von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in
ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen,
dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu-
gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber,
nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen-
ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie
inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un-
ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von
beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver-
mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu
verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht
allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele
desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid
fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu
wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß
nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele
desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar
keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje-
nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern-
teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt
ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid,

in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0213" n="207"/>
Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.<lb/>
Dacier aber hat &#x017F;ich nur an den dritten Punkt<lb/>
gehalten, und auch die&#x017F;en nur &#x017F;ehr &#x017F;chlecht, und<lb/>
auch die&#x017F;en nur zur Helfte erläutert. Denn wer<lb/>
&#x017F;ich um einen richtigen und voll&#x017F;tändigen Begriff<lb/>
von der Ari&#x017F;toteli&#x017F;chen Reinigung der Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften bemüht hat, wird finden, daß jeder<lb/>
von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;et. Da nehmlich, es kurz zu &#x017F;agen,<lb/>
die&#x017F;e Reinigung in nichts anders beruhet, als<lb/>
in der Verwandlung der Leiden&#x017F;chaften in tu-<lb/>
gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber,<lb/>
nach un&#x017F;erm Philo&#x017F;ophen, &#x017F;ich di&#x017F;&#x017F;eits und jen-<lb/>
&#x017F;eits ein Extremum findet, zwi&#x017F;chen welchem &#x017F;ie<lb/>
inne &#x017F;tehet: &#x017F;o muß die Tragödie, wenn &#x017F;ie un-<lb/>
&#x017F;er Mitleid in Tugend verwandeln &#x017F;oll, uns von<lb/>
beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver-<lb/>
mögend &#x017F;eyn; welches auch von der Furcht zu<lb/>
ver&#x017F;tehen. Das tragi&#x017F;che Mitleid muß nicht<lb/>
allein, in An&#x017F;ehung des Mitleids, die Seele<lb/>
desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid<lb/>
fühlet, &#x017F;ondern auch desjenigen, welcher zu<lb/>
wenig empfindet. Die tragi&#x017F;che Furcht muß<lb/>
nicht allein, in An&#x017F;ehung der Furcht, die Seele<lb/>
desjenigen reinigen, welcher &#x017F;ich ganz und gar<lb/>
keines Unglücks befürchtet, &#x017F;ondern auch desje-<lb/>
nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern-<lb/>
te&#x017F;te, auch das unwahr&#x017F;cheinlich&#x017F;te, in Ang&#x017F;t<lb/>
&#x017F;etzet. Gleichfalls muß das tragi&#x017F;che Mitleid,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0213] Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden- ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen, dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu- gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber, nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen- ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un- ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver- mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje- nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern- teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/213
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/213>, abgerufen am 26.12.2024.