überhaupt alle philanthropische Empfindungen, so wie unter der Furcht nicht blos die Unlust über ein uns bevorstehendes Uebel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Uebel, Betrübniß und Gram, verstehe. Jn diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie er- weckt, unser Mitleid und unsere Furcht reini- gen; aber auch nur diese reinigen, und keine andere Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leiden- schaften, nützliche Lehren und Beyspiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, in so fern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Hand- lung überhaupt ist, nicht aber in so fern sie Tra- gödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkom- men, wie das andere; was aber jede am voll- kommensten bessern kann, worinn es ihr keine andere Gattung gleich zu thun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.
Ham-
überhaupt alle philanthropiſche Empfindungen, ſo wie unter der Furcht nicht blos die Unluſt über ein uns bevorſtehendes Uebel, ſondern auch jede damit verwandte Unluſt, auch die Unluſt über ein gegenwärtiges, auch die Unluſt über ein vergangenes Uebel, Betrübniß und Gram, verſtehe. Jn dieſem ganzen Umfange ſoll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie er- weckt, unſer Mitleid und unſere Furcht reini- gen; aber auch nur dieſe reinigen, und keine andere Leidenſchaften. Zwar können ſich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leiden- ſchaften, nützliche Lehren und Beyſpiele finden; doch ſind dieſe nicht ihre Abſicht; dieſe hat ſie mit der Epopee und Komödie gemein, in ſo fern ſie ein Gedicht, die Nachahmung einer Hand- lung überhaupt iſt, nicht aber in ſo fern ſie Tra- gödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbeſondere iſt. Beſſern ſollen uns alle Gattungen der Poeſie: es iſt kläglich, wenn man dieſes erſt beweiſen muß; noch kläglicher iſt es, wenn es Dichter giebt, die ſelbſt daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles beſſern; wenigſtens nicht jedes ſo vollkom- men, wie das andere; was aber jede am voll- kommenſten beſſern kann, worinn es ihr keine andere Gattung gleich zu thun vermag, das allein iſt ihre eigentliche Beſtimmung.
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[200/0206]
überhaupt alle philanthropiſche Empfindungen,
ſo wie unter der Furcht nicht blos die Unluſt
über ein uns bevorſtehendes Uebel, ſondern auch
jede damit verwandte Unluſt, auch die Unluſt
über ein gegenwärtiges, auch die Unluſt über
ein vergangenes Uebel, Betrübniß und Gram,
verſtehe. Jn dieſem ganzen Umfange ſoll das
Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie er-
weckt, unſer Mitleid und unſere Furcht reini-
gen; aber auch nur dieſe reinigen, und keine
andere Leidenſchaften. Zwar können ſich in der
Tragödie auch zur Reinigung der andern Leiden-
ſchaften, nützliche Lehren und Beyſpiele finden;
doch ſind dieſe nicht ihre Abſicht; dieſe hat ſie
mit der Epopee und Komödie gemein, in ſo fern
ſie ein Gedicht, die Nachahmung einer Hand-
lung überhaupt iſt, nicht aber in ſo fern ſie Tra-
gödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen
Handlung insbeſondere iſt. Beſſern ſollen uns
alle Gattungen der Poeſie: es iſt kläglich, wenn
man dieſes erſt beweiſen muß; noch kläglicher
iſt es, wenn es Dichter giebt, die ſelbſt daran
zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht
alles beſſern; wenigſtens nicht jedes ſo vollkom-
men, wie das andere; was aber jede am voll-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/206>, abgerufen am 31.01.2025.
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