"Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten "Leidenschaften reinigen." Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeitz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehr- geitz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwan- delt Windmühlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat, und ihnen auf seinem bedächtlichern Pferde hinten nach ruft, sich nicht zu übereilen, und doch nur erst die Augen recht aufzusperren. Ton toioutoun pa- thematon, sagt Aristoteles: und das heißt nicht, der vorgestellten Leidenschaften; das hätten sie übersetzen müssen durch, dieser und dergleichen, oder, der erweckten Leidenschaften. Das toiou- ton bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, blos um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber toiouton und nicht touton; er sagt, dieser und dergleichen, und nicht blos, dieser: um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht blos das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern
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„Mitleids, von den Fehlern der vorgeſtellten „Leidenſchaften reinigen.„ Der vorgeſtellten? Alſo, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeitz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: ſo iſt es unſere Neugierde, unſer Ehr- geitz, unſere Liebe, unſer Zorn, welchen die Tragödie reinigen ſoll? Das iſt dem Ariſtoteles nie in den Sinn gekommen. Und ſo haben die Herren gut ſtreiten; ihre Einbildung verwan- delt Windmühlen in Rieſen; ſie jagen, in der gewiſſen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren ſich an keinen Sancho, der weiter nichts als geſunden Menſchenverſtand hat, und ihnen auf ſeinem bedächtlichern Pferde hinten nach ruft, ſich nicht zu übereilen, und doch nur erſt die Augen recht aufzuſperren. Των τοιουτουν πα- ϑηματων, ſagt Ariſtoteles: und das heißt nicht, der vorgeſtellten Leidenſchaften; das hätten ſie überſetzen müſſen durch, dieſer und dergleichen, oder, der erweckten Leidenſchaften. Das τοιου- των bezieht ſich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie ſoll unſer Mitleid und unſere Furcht erregen, blos um dieſe und dergleichen Leidenſchaften, nicht aber alle Leidenſchaften ohne Unterſchied zu reinigen. Er ſagt aber τοιουτων und nicht τουτων; er ſagt, dieſer und dergleichen, und nicht blos, dieſer: um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht blos das eigentlich ſogenannte Mitleid, ſondern
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„Mitleids, von den Fehlern der vorgeſtellten
„Leidenſchaften reinigen.„ Der vorgeſtellten?
Alſo, wenn der Held durch Neugierde, oder
Ehrgeitz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich
wird: ſo iſt es unſere Neugierde, unſer Ehr-
geitz, unſere Liebe, unſer Zorn, welchen die
Tragödie reinigen ſoll? Das iſt dem Ariſtoteles
nie in den Sinn gekommen. Und ſo haben die
Herren gut ſtreiten; ihre Einbildung verwan-
delt Windmühlen in Rieſen; ſie jagen, in der
gewiſſen Hoffnung des Sieges, darauf los, und
kehren ſich an keinen Sancho, der weiter nichts
als geſunden Menſchenverſtand hat, und ihnen
auf ſeinem bedächtlichern Pferde hinten nach
ruft, ſich nicht zu übereilen, und doch nur erſt
die Augen recht aufzuſperren. Των τοιουτουν πα-
ϑηματων, ſagt Ariſtoteles: und das heißt nicht,
der vorgeſtellten Leidenſchaften; das hätten ſie
überſetzen müſſen durch, dieſer und dergleichen,
oder, der erweckten Leidenſchaften. Das τοιου-
των bezieht ſich lediglich auf das vorhergehende
Mitleid und Furcht; die Tragödie ſoll unſer
Mitleid und unſere Furcht erregen, blos um
dieſe und dergleichen Leidenſchaften, nicht aber
alle Leidenſchaften ohne Unterſchied zu reinigen.
Er ſagt aber τοιουτων und nicht τουτων; er ſagt,
dieſer und dergleichen, und nicht blos, dieſer:
um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht
blos das eigentlich ſogenannte Mitleid, ſondern
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/205>, abgerufen am 24.11.2024.
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