aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Ge- gensatz, "nicht vermittelst der Erzehlung, son- dern vermittelst des Mitleids und der Furcht," befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzehlung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu ma- chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent- liche Gegensatz der Erzehlung, welches die dra- matische Form ist, zu fehlen? Was thun aber die Uebersetzer bey dieser Lücke? Der eine um- geht sie ganz behutsam: und der andere füllt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Da- cier übersetzt: d'une action -- qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion & de la terreur u. s. w.; und Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch "die Erzehlung des Dichters, sondern (durch "Vorstellung der Handlung selbst) uns, ver- "mittelst des Schreckens und Mitleids, von den "Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reini- "get." O, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an
die-
aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge- genſatz, „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon- dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht,„ befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma- chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent- liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra- matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um- geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da- cier überſetzt: d’une action — qui, ſans le ſecours de la narration, par le moyen de la compaſſion & de la terreur u. ſ. w.; und Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch „die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch „Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver- „mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den „Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini- „get.„ O, ſehr recht! Beide ſagen, was Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch an
die-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0202"n="196"/>
aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge-<lb/>
genſatz, „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon-<lb/>
dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht,„<lb/>
befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel,<lb/>
welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu<lb/>
erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf<lb/>
die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel<lb/>
zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet<lb/>
hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma-<lb/>
chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent-<lb/>
liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra-<lb/>
matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber<lb/>
die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um-<lb/>
geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie,<lb/>
aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts<lb/>
darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an<lb/>
die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn<lb/>ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da-<lb/>
cier überſetzt: <hirendition="#aq">d’une action — qui, ſans le<lb/>ſecours de la narration, par le moyen de<lb/>
la compaſſion & de la terreur</hi> u. ſ. w.; und<lb/>
Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch<lb/>„die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch<lb/>„Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver-<lb/>„mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den<lb/>„Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini-<lb/>„get.„ O, ſehr recht! Beide ſagen, was<lb/>
Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo<lb/>ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch an<lb/><fwplace="bottom"type="catch">die-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[196/0202]
aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge-
genſatz, „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon-
dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht,„
befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel,
welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu
erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf
die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel
zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet
hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma-
chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent-
liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra-
matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber
die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um-
geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie,
aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts
darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an
die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn
ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da-
cier überſetzt: d’une action — qui, ſans le
ſecours de la narration, par le moyen de
la compaſſion & de la terreur u. ſ. w.; und
Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch
„die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch
„Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver-
„mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den
„Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini-
„get.„ O, ſehr recht! Beide ſagen, was
Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo
ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch an
die-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/202>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.