Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Ge-
gensatz, "nicht vermittelst der Erzehlung, son-
dern vermittelst des Mitleids und der Furcht,"
befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel,
welche die Tragödie braucht, um ihre Absicht zu
erreichen: und die Erzehlung kann sich nur auf
die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel
zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet
hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu ma-
chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent-
liche Gegensatz der Erzehlung, welches die dra-
matische Form ist, zu fehlen? Was thun aber
die Uebersetzer bey dieser Lücke? Der eine um-
geht sie ganz behutsam: und der andere füllt sie,
aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts
darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an
die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn
sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Da-
cier übersetzt: d'une action -- qui, sans le
secours de la narration, par le moyen de
la compassion & de la terreur
u. s. w.; und
Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch
"die Erzehlung des Dichters, sondern (durch
"Vorstellung der Handlung selbst) uns, ver-
"mittelst des Schreckens und Mitleids, von den
"Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reini-
"get." O, sehr recht! Beide sagen, was
Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so
sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an

die-

aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge-
genſatz, „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon-
dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht,„
befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel,
welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu
erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf
die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel
zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet
hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma-
chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent-
liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra-
matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber
die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um-
geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie,
aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts
darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an
die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn
ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da-
cier überſetzt: d’une action — qui, ſans le
ſecours de la narration, par le moyen de
la compaſſion & de la terreur
u. ſ. w.; und
Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch
„die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch
„Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver-
„mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den
„Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini-
„get.„ O, ſehr recht! Beide ſagen, was
Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo
ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch an

die-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0202" n="196"/>
aus. Wem &#x017F;ollte hier nicht der &#x017F;onderbare Ge-<lb/>
gen&#x017F;atz, &#x201E;nicht vermittel&#x017F;t der Erzehlung, &#x017F;on-<lb/>
dern vermittel&#x017F;t des Mitleids und der Furcht,&#x201E;<lb/>
befremden? Mitleid und Furcht &#x017F;ind die Mittel,<lb/>
welche die Tragödie braucht, um ihre Ab&#x017F;icht zu<lb/>
erreichen: und die Erzehlung kann &#x017F;ich nur auf<lb/>
die Art und Wei&#x017F;e beziehen, &#x017F;ich die&#x017F;er Mittel<lb/>
zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet<lb/>
hier al&#x017F;o Ari&#x017F;toteles nicht einen Sprung zu ma-<lb/>
chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent-<lb/>
liche Gegen&#x017F;atz der Erzehlung, welches die dra-<lb/>
mati&#x017F;che Form i&#x017F;t, zu fehlen? Was thun aber<lb/>
die Ueber&#x017F;etzer bey die&#x017F;er Lücke? Der eine um-<lb/>
geht &#x017F;ie ganz behut&#x017F;am: und der andere füllt &#x017F;ie,<lb/>
aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts<lb/>
darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an<lb/>
die &#x017F;ie &#x017F;ich nicht halten zu dürfen glauben, wenn<lb/>
&#x017F;ie nur den Sinn des Philo&#x017F;ophen liefern. Da-<lb/>
cier über&#x017F;etzt: <hi rendition="#aq">d&#x2019;une action &#x2014; qui, &#x017F;ans le<lb/>
&#x017F;ecours de la narration, par le moyen de<lb/>
la compa&#x017F;&#x017F;ion &amp; de la terreur</hi> u. &#x017F;. w.; und<lb/>
Curtius: &#x201E;einer Handlung, welche nicht durch<lb/>
&#x201E;die Erzehlung des Dichters, &#x017F;ondern (durch<lb/>
&#x201E;Vor&#x017F;tellung der Handlung &#x017F;elb&#x017F;t) uns, ver-<lb/>
&#x201E;mittel&#x017F;t des Schreckens und Mitleids, von den<lb/>
&#x201E;Fehlern der vorge&#x017F;tellten Leiden&#x017F;chaften reini-<lb/>
&#x201E;get.&#x201E; O, &#x017F;ehr recht! Beide &#x017F;agen, was<lb/>
Ari&#x017F;toteles &#x017F;agen will, nur daß &#x017F;ie es nicht &#x017F;o<lb/>
&#x017F;agen, wie er es &#x017F;agt. Gleichwohl i&#x017F;t auch an<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0202] aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge- genſatz, „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon- dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht,„ befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma- chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent- liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra- matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um- geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da- cier überſetzt: d’une action — qui, ſans le ſecours de la narration, par le moyen de la compaſſion & de la terreur u. ſ. w.; und Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch „die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch „Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver- „mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den „Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini- „get.„ O, ſehr recht! Beide ſagen, was Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch an die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/202
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/202>, abgerufen am 24.11.2024.