gezogen, weil sie der damalige Gebrauch noth- wendig gemacht hatte. Diese indeß abgerech- net, und die übrigen Merkmahle in einander reduciret, bleibt eine vollkommen genaue Er- klärung übrig: die nehmlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Jhrem Geschlechte nach, ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu be- stimmen.
An dem letztern dürfte man vielleicht zwei- feln. Wenigstens wüßte ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so läßt, weil man es gut findet. Der ein- zige Aristoteles hat die Ursache ergründet, aber sie bey seiner Erklärung mehr vorausgesetzt, als deutlich angegeben. "Die Tragödie, sagt er, "ist die Nachahmung einer Handlung, -- die "nicht vermittelst der Erzehlung, sondern ver- "mittelst des Mitleids und der Furcht, die Rei- "nigung dieser und dergleichen Leidenschaften be- "wirket." So drückt er sich von Wort zu Wort
aus.
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gezogen, weil ſie der damalige Gebrauch noth- wendig gemacht hatte. Dieſe indeß abgerech- net, und die übrigen Merkmahle in einander reduciret, bleibt eine vollkommen genaue Er- klärung übrig: die nehmlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht iſt, welches Mitleid erreget. Jhrem Geſchlechte nach, iſt ſie die Nachahmung einer Handlung; ſo wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus dieſen beiden Begriffen laſſen ſich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und ſogar ihre dramatiſche Form iſt daraus zu be- ſtimmen.
An dem letztern dürfte man vielleicht zwei- feln. Wenigſtens wüßte ich keinen Kunſtrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu verſuchen. Sie nehmen alle die dramatiſche Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun ſo iſt, weil es einmal ſo iſt, und das man ſo läßt, weil man es gut findet. Der ein- zige Ariſtoteles hat die Urſache ergründet, aber ſie bey ſeiner Erklärung mehr vorausgeſetzt, als deutlich angegeben. „Die Tragödie, ſagt er, „iſt die Nachahmung einer Handlung, — die „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſondern ver- „mittelſt des Mitleids und der Furcht, die Rei- „nigung dieſer und dergleichen Leidenſchaften be- „wirket.„ So drückt er ſich von Wort zu Wort
aus.
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gezogen, weil ſie der damalige Gebrauch noth-
wendig gemacht hatte. Dieſe indeß abgerech-
net, und die übrigen Merkmahle in einander
reduciret, bleibt eine vollkommen genaue Er-
klärung übrig: die nehmlich, daß die Tragödie,
mit einem Worte, ein Gedicht iſt, welches
Mitleid erreget. Jhrem Geſchlechte nach, iſt
ſie die Nachahmung einer Handlung; ſo wie die
Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber
nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen
Handlung. Aus dieſen beiden Begriffen laſſen
ſich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und
ſogar ihre dramatiſche Form iſt daraus zu be-
ſtimmen.
An dem letztern dürfte man vielleicht zwei-
feln. Wenigſtens wüßte ich keinen Kunſtrichter
zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es
zu verſuchen. Sie nehmen alle die dramatiſche
Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an,
das nun ſo iſt, weil es einmal ſo iſt, und das
man ſo läßt, weil man es gut findet. Der ein-
zige Ariſtoteles hat die Urſache ergründet, aber
ſie bey ſeiner Erklärung mehr vorausgeſetzt, als
deutlich angegeben. „Die Tragödie, ſagt er,
„iſt die Nachahmung einer Handlung, — die
„nicht vermittelſt der Erzehlung, ſondern ver-
„mittelſt des Mitleids und der Furcht, die Rei-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/201>, abgerufen am 24.11.2024.
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