Hamburgische Dramaturgie. Sieben und siebzigstes Stück.
Den 26sten Januar, 1768.
Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er noth- wendig mit der Furcht für uns selbst verknüpft seyn müsse: was war es nöthig, der Furcht noch insbesondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid schloß sie schon in sich, und es wäre genug gewesen, wenn er blos gesagt hätte: die Tragödie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwan- kend und ungewiß.
Jch antworte: wenn Aristoteles uns blos hätte lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragödie erregen könne und solle, so würde er sich den Zusatz der Furcht allerdings haben er- sparen können, und ohne Zweifel sich wirklich
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Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und ſiebzigſtes Stück.
Den 26ſten Januar, 1768.
Einem Einwurfe iſt hier noch vorzukommen. Wenn Ariſtoteles dieſen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er noth- wendig mit der Furcht für uns ſelbſt verknüpft ſeyn müſſe: was war es nöthig, der Furcht noch insbeſondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid ſchloß ſie ſchon in ſich, und es wäre genug geweſen, wenn er blos geſagt hätte: die Tragödie ſoll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unſerer Leidenſchaft bewirken. Denn der Zuſatz der Furcht ſagt nichts mehr, und macht das, was er ſagen ſoll, noch dazu ſchwan- kend und ungewiß.
Jch antworte: wenn Ariſtoteles uns blos hätte lehren wollen, welche Leidenſchaften die Tragödie erregen könne und ſolle, ſo würde er ſich den Zuſatz der Furcht allerdings haben er- ſparen können, und ohne Zweifel ſich wirklich
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Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und ſiebzigſtes Stück.
Den 26ſten Januar, 1768.
Einem Einwurfe iſt hier noch vorzukommen.
Wenn Ariſtoteles dieſen Begriff von dem
Affekte des Mitleids hatte, daß er noth-
wendig mit der Furcht für uns ſelbſt verknüpft
ſeyn müſſe: was war es nöthig, der Furcht
noch insbeſondere zu erwähnen? Das Wort
Mitleid ſchloß ſie ſchon in ſich, und es wäre
genug geweſen, wenn er blos geſagt hätte: die
Tragödie ſoll durch Erregung des Mitleids die
Reinigung unſerer Leidenſchaft bewirken. Denn
der Zuſatz der Furcht ſagt nichts mehr, und
macht das, was er ſagen ſoll, noch dazu ſchwan-
kend und ungewiß.
Jch antworte: wenn Ariſtoteles uns blos
hätte lehren wollen, welche Leidenſchaften die
Tragödie erregen könne und ſolle, ſo würde er
ſich den Zuſatz der Furcht allerdings haben er-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. [193]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/199>, abgerufen am 25.11.2024.
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