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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"bey ihnen rege? Jst es nicht die Annäherung
"der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten phy-
"sikalischen Uebel, die uns sogar mit einem Ruch-
"losen gleichsam aussöhnen, und ihm unsere Liebe
"erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich
"mitleidig mit seinem Schicksale seyn."

Und eben diese Liebe, sage ich, die wir gegen
unsern Nebenmenschen unter keinerley Umstän-
den ganz verlieren können, die unter der Asche,
mit welcher sie andere stärkere Empfindungen
überdecken, unverlöschlich fortglimmet, und
gleichsam nur einen günstigen Windstoß von
Unglück und Schmerz und Verderben erwartet,
um in die Flamme des Mitleids auszubrechen;
eben diese Liebe ist es, welche Aristoteles unter
dem Namen der Philanthropie verstehet. Wir
haben Recht, wenn wir sie mit unter dem Na-
men des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles
hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen ei-
genen Namen gab, um sie, wie gesagt, von
dem höchsten Grade der mitleidigen Empfindun-
gen, in welchem sie, durch die Dazukunst einer
wahrscheinlichen Furcht für uns selbst, Affekt
werden, zu unterscheiden.



Ham-

„bey ihnen rege? Jſt es nicht die Annäherung
„der Strafe, der Anblick der entſetzlichſten phy-
„ſikaliſchen Uebel, die uns ſogar mit einem Ruch-
„loſen gleichſam ausſöhnen, und ihm unſere Liebe
„erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich
„mitleidig mit ſeinem Schickſale ſeyn.„

Und eben dieſe Liebe, ſage ich, die wir gegen
unſern Nebenmenſchen unter keinerley Umſtän-
den ganz verlieren können, die unter der Aſche,
mit welcher ſie andere ſtärkere Empfindungen
überdecken, unverlöſchlich fortglimmet, und
gleichſam nur einen günſtigen Windſtoß von
Unglück und Schmerz und Verderben erwartet,
um in die Flamme des Mitleids auszubrechen;
eben dieſe Liebe iſt es, welche Ariſtoteles unter
dem Namen der Philanthropie verſtehet. Wir
haben Recht, wenn wir ſie mit unter dem Na-
men des Mitleids begreifen. Aber Ariſtoteles
hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen ei-
genen Namen gab, um ſie, wie geſagt, von
dem höchſten Grade der mitleidigen Empfindun-
gen, in welchem ſie, durch die Dazukunſt einer
wahrſcheinlichen Furcht für uns ſelbſt, Affekt
werden, zu unterſcheiden.



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[192/0198] „bey ihnen rege? Jſt es nicht die Annäherung „der Strafe, der Anblick der entſetzlichſten phy- „ſikaliſchen Uebel, die uns ſogar mit einem Ruch- „loſen gleichſam ausſöhnen, und ihm unſere Liebe „erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich „mitleidig mit ſeinem Schickſale ſeyn.„ Und eben dieſe Liebe, ſage ich, die wir gegen unſern Nebenmenſchen unter keinerley Umſtän- den ganz verlieren können, die unter der Aſche, mit welcher ſie andere ſtärkere Empfindungen überdecken, unverlöſchlich fortglimmet, und gleichſam nur einen günſtigen Windſtoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; eben dieſe Liebe iſt es, welche Ariſtoteles unter dem Namen der Philanthropie verſtehet. Wir haben Recht, wenn wir ſie mit unter dem Na- men des Mitleids begreifen. Aber Ariſtoteles hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen ei- genen Namen gab, um ſie, wie geſagt, von dem höchſten Grade der mitleidigen Empfindun- gen, in welchem ſie, durch die Dazukunſt einer wahrſcheinlichen Furcht für uns ſelbſt, Affekt werden, zu unterſcheiden. Ham-

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/198>, abgerufen am 22.11.2024.