Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Aristoteles von dem Mitleiden giebt, falsch wäre? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir für uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben?
Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust über das physikalische Uebel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unlust entstehet blos aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten dessel- ben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte Empfin- dung, welche wir Mitleid nennen.
Jedoch auch so nach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles nothwendig aufgeben zu müssen.
Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht für uns selbst, Mitleid für andere empfinden kön- nen: so ist es doch unstreitig, daß unser Mit- leid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit leb- hafter und stärker und anzüglicher wird, als es ohne sie seyn kann. Und was hindert uns, an- zunehmen, daß die vermischte Empfindung über das physikalische Uebel eines geliebten Gegen- standes, nur allein durch die dazu kommende Furcht für uns, zu dem Grade erwächst, in wel- chem sie Affekt genannt zu werden verdienet?
Aristo-
Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Ariſtoteles von dem Mitleiden giebt, falſch wäre? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir für uns ſelbſt auf keine Weiſe zu beſorgen haben?
Es iſt wahr: es braucht unſerer Furcht nicht, um Unluſt über das phyſikaliſche Uebel eines Gegenſtandes zu empfinden, den wir lieben. Dieſe Unluſt entſtehet blos aus der Vorſtellung der Unvollkommenheit, ſo wie unſere Liebe aus der Vorſtellung der Vollkommenheiten deſſel- ben; und aus dem Zuſammenfluſſe dieſer Luſt und Unluſt entſpringet die vermiſchte Empfin- dung, welche wir Mitleid nennen.
Jedoch auch ſo nach glaube ich nicht, die Sache des Ariſtoteles nothwendig aufgeben zu müſſen.
Denn wenn wir auch ſchon, ohne Furcht für uns ſelbſt, Mitleid für andere empfinden kön- nen: ſo iſt es doch unſtreitig, daß unſer Mit- leid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit leb- hafter und ſtärker und anzüglicher wird, als es ohne ſie ſeyn kann. Und was hindert uns, an- zunehmen, daß die vermiſchte Empfindung über das phyſikaliſche Uebel eines geliebten Gegen- ſtandes, nur allein durch die dazu kommende Furcht für uns, zu dem Grade erwächſt, in wel- chem ſie Affekt genannt zu werden verdienet?
Ariſto-
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Allein, wie, wenn die Erklärung, welche
Ariſtoteles von dem Mitleiden giebt, falſch
wäre? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und
Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir
für uns ſelbſt auf keine Weiſe zu beſorgen
haben?
Es iſt wahr: es braucht unſerer Furcht nicht,
um Unluſt über das phyſikaliſche Uebel eines
Gegenſtandes zu empfinden, den wir lieben.
Dieſe Unluſt entſtehet blos aus der Vorſtellung
der Unvollkommenheit, ſo wie unſere Liebe aus
der Vorſtellung der Vollkommenheiten deſſel-
ben; und aus dem Zuſammenfluſſe dieſer Luſt
und Unluſt entſpringet die vermiſchte Empfin-
dung, welche wir Mitleid nennen.
Jedoch auch ſo nach glaube ich nicht, die
Sache des Ariſtoteles nothwendig aufgeben zu
müſſen.
Denn wenn wir auch ſchon, ohne Furcht für
uns ſelbſt, Mitleid für andere empfinden kön-
nen: ſo iſt es doch unſtreitig, daß unſer Mit-
leid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit leb-
hafter und ſtärker und anzüglicher wird, als es
ohne ſie ſeyn kann. Und was hindert uns, an-
zunehmen, daß die vermiſchte Empfindung über
das phyſikaliſche Uebel eines geliebten Gegen-
ſtandes, nur allein durch die dazu kommende
Furcht für uns, zu dem Grade erwächſt, in wel-
chem ſie Affekt genannt zu werden verdienet?
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/194>, abgerufen am 24.11.2024.
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