les? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht re- det, in die uns nur das Unglück unsers gleichen setzen könne. Dieses Schrecken, welches uns bey der plötzlichen Erblickung eines Leidens be- fällt, das einem andern bevorstehet, ist ein mit- leidiges Schrecken, und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles würde nicht sa- gen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modification des Mitleids verstünde.
"Das Mitleid, sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen, (*) "ist eine vermischte "Empfindung, die aus der Liebe zu einem Ge- "genstande, und aus der Unlust über dessen Un- "glück zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, "durch welche sich das Mitleid zu erkennen giebt, "sind von den einfachen Symptomen der Liebe, "sowohl als der Unlust, unterschieden, denn "das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie "vielerley kann diese Erscheinung werden! Man "ändre nur in dem betauerten Unglück die ein- "zige Bestimmung der Zeit: so wird sich das "Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu "erkennen geben. Mit der Elektra, die über "die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir "ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Un-
"glück
(*) Philosophische Schriften des Herrn Moses Mendelssohn, zweyter Theil, S. 4.
les? Nichts. Ariſtoteles denkt an dieſes Schrecken nicht, wenn er von der Furcht re- det, in die uns nur das Unglück unſers gleichen ſetzen könne. Dieſes Schrecken, welches uns bey der plötzlichen Erblickung eines Leidens be- fällt, das einem andern bevorſtehet, iſt ein mit- leidiges Schrecken, und alſo ſchon unter dem Mitleide begriffen. Ariſtoteles würde nicht ſa- gen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modification des Mitleids verſtünde.
„Das Mitleid, ſagt der Verfaſſer der Briefe über die Empfindungen, (*) „iſt eine vermiſchte „Empfindung, die aus der Liebe zu einem Ge- „genſtande, und aus der Unluſt über deſſen Un- „glück zuſammengeſetzt iſt. Die Bewegungen, „durch welche ſich das Mitleid zu erkennen giebt, „ſind von den einfachen Symptomen der Liebe, „ſowohl als der Unluſt, unterſchieden, denn „das Mitleid iſt eine Erſcheinung. Aber wie „vielerley kann dieſe Erſcheinung werden! Man „ändre nur in dem betauerten Unglück die ein- „zige Beſtimmung der Zeit: ſo wird ſich das „Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu „erkennen geben. Mit der Elektra, die über „die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir „ein mitleidiges Trauern, denn ſie hält das Un-
„glück
(*) Philoſophiſche Schriften des Herrn Moſes Mendelsſohn, zweyter Theil, S. 4.
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Schrecken nicht, wenn er von der Furcht re-
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ſetzen könne. Dieſes Schrecken, welches uns
bey der plötzlichen Erblickung eines Leidens be-
fällt, das einem andern bevorſtehet, iſt ein mit-
leidiges Schrecken, und alſo ſchon unter dem
Mitleide begriffen. Ariſtoteles würde nicht ſa-
gen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der
Furcht weiter nichts als eine bloße Modification
des Mitleids verſtünde.
„Das Mitleid, ſagt der Verfaſſer der Briefe
über die Empfindungen, (*) „iſt eine vermiſchte
„Empfindung, die aus der Liebe zu einem Ge-
„genſtande, und aus der Unluſt über deſſen Un-
„glück zuſammengeſetzt iſt. Die Bewegungen,
„durch welche ſich das Mitleid zu erkennen giebt,
„ſind von den einfachen Symptomen der Liebe,
„ſowohl als der Unluſt, unterſchieden, denn
„das Mitleid iſt eine Erſcheinung. Aber wie
„vielerley kann dieſe Erſcheinung werden! Man
„ändre nur in dem betauerten Unglück die ein-
„zige Beſtimmung der Zeit: ſo wird ſich das
„Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu
„erkennen geben. Mit der Elektra, die über
„die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir
„ein mitleidiges Trauern, denn ſie hält das Un-
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(*) Philoſophiſche Schriften des Herrn Moſes
Mendelsſohn, zweyter Theil, S. 4.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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