"rem Range ein unendlicher Abstand befände: "so war dieser Zusatz überflüßig; denn er ver- "stand sich von selbst. Wenn er aber die Mei- "nung hatte, daß nur tugendhafte Personen, "oder solche, die einen vergeblichen Fehler an "sich hätten, Schrecken erregen könnten: so "hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die "Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das "Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Ge- "fühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist "ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüt- "tert sich, vermöge dieses Gefühls, bey dem "widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es "ist wohl möglich, daß irgend jemand einfallen "könnte, dieses von sich zu leugnen: allein die- "ses würde allemal eine Verleugnung seiner na- "türlichen Empfindungen, und also eine bloße "Prahlerey aus verderbten Grundsätzen, und "kein Einwurf seyn. -- Wenn nun auch einer "lasterhaften Person, auf die wir eben unsere "Aufmerksamkeit wenden, unvermuthet ein wi- "driger Zufall zustößt, so verlieren wir den La- "sterhaften aus dem Gesichte, und sehen blos "den Menschen. Der Anblick des menschlichen "Elendes überhaupt, macht uns traurig, und "die plötzliche traurige Empfindung, die wir so- "dann haben, ist das Schrecken."
Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristote-
les?
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„rem Range ein unendlicher Abſtand befände: „ſo war dieſer Zuſatz überflüßig; denn er ver- „ſtand ſich von ſelbſt. Wenn er aber die Mei- „nung hatte, daß nur tugendhafte Perſonen, „oder ſolche, die einen vergeblichen Fehler an „ſich hätten, Schrecken erregen könnten: ſo „hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die „Erfahrung iſt ihm ſodann entgegen. Das „Schrecken entſpringt ohnſtreitig aus einem Ge- „fühl der Menſchlichkeit: denn jeder Menſch iſt „ihm unterworfen, und jeder Menſch erſchüt- „tert ſich, vermöge dieſes Gefühls, bey dem „widrigen Zufalle eines andern Menſchen. Es „iſt wohl möglich, daß irgend jemand einfallen „könnte, dieſes von ſich zu leugnen: allein die- „ſes würde allemal eine Verleugnung ſeiner na- „türlichen Empfindungen, und alſo eine bloße „Prahlerey aus verderbten Grundſätzen, und „kein Einwurf ſeyn. — Wenn nun auch einer „laſterhaften Perſon, auf die wir eben unſere „Aufmerkſamkeit wenden, unvermuthet ein wi- „driger Zufall zuſtößt, ſo verlieren wir den La- „ſterhaften aus dem Geſichte, und ſehen blos „den Menſchen. Der Anblick des menſchlichen „Elendes überhaupt, macht uns traurig, und „die plötzliche traurige Empfindung, die wir ſo- „dann haben, iſt das Schrecken.„
Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was ſagt das wider den Ariſtote-
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„rem Range ein unendlicher Abſtand befände:
„ſo war dieſer Zuſatz überflüßig; denn er ver-
„ſtand ſich von ſelbſt. Wenn er aber die Mei-
„nung hatte, daß nur tugendhafte Perſonen,
„oder ſolche, die einen vergeblichen Fehler an
„ſich hätten, Schrecken erregen könnten: ſo
„hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die
„Erfahrung iſt ihm ſodann entgegen. Das
„Schrecken entſpringt ohnſtreitig aus einem Ge-
„fühl der Menſchlichkeit: denn jeder Menſch iſt
„ihm unterworfen, und jeder Menſch erſchüt-
„tert ſich, vermöge dieſes Gefühls, bey dem
„widrigen Zufalle eines andern Menſchen. Es
„iſt wohl möglich, daß irgend jemand einfallen
„könnte, dieſes von ſich zu leugnen: allein die-
„ſes würde allemal eine Verleugnung ſeiner na-
„türlichen Empfindungen, und alſo eine bloße
„Prahlerey aus verderbten Grundſätzen, und
„kein Einwurf ſeyn. — Wenn nun auch einer
„laſterhaften Perſon, auf die wir eben unſere
„Aufmerkſamkeit wenden, unvermuthet ein wi-
„driger Zufall zuſtößt, ſo verlieren wir den La-
„ſterhaften aus dem Geſichte, und ſehen blos
„den Menſchen. Der Anblick des menſchlichen
„Elendes überhaupt, macht uns traurig, und
„die plötzliche traurige Empfindung, die wir ſo-
„dann haben, iſt das Schrecken.„
Ganz recht: aber nur nicht an der rechten
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/179>, abgerufen am 24.11.2024.
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