Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgend ein großes Verbrechen begehen mußten. Sie schoben öf- ters lieber die Schuld auf das Schicksal, mach- ten das Verbrechen lieber zu einem Verhäng- nisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freyen Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bey der gräßlichen Jdee wollten ver- weilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbniß fähig sey.
Bey den Franzosen führt Crebillon den Bey- namen des Schrecklichen. Jch fürchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tra- gödie nicht seyn sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragödie rech- net.
Und dieses -- hätte man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristote- les braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht, Mit- leid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzli- che, überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Ueberraschende, welches die Jdee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen sich hier die Einführung des Wortes Schrecken, anstatt des Wortes Furcht,
her-
Y 2
Aber dieſes Schrecken iſt ſo wenig eine von den Abſichten des Trauerſpiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weiſe zu mindern ſuchten, wenn ihre Perſonen irgend ein großes Verbrechen begehen mußten. Sie ſchoben öf- ters lieber die Schuld auf das Schickſal, mach- ten das Verbrechen lieber zu einem Verhäng- niſſe einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freyen Menſchen in eine Maſchine: ehe ſie uns bey der gräßlichen Jdee wollten ver- weilen laſſen, daß der Menſch von Natur einer ſolchen Verderbniß fähig ſey.
Bey den Franzoſen führt Crebillon den Bey- namen des Schrecklichen. Jch fürchte ſehr, mehr von dieſem Schrecken, welches in der Tra- gödie nicht ſeyn ſollte, als von dem echten, das der Philoſoph zu dem Weſen der Tragödie rech- net.
Und dieſes — hätte man gar nicht Schrecken nennen ſollen. Das Wort, welches Ariſtote- les braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, ſagt er, ſoll die Tragödie erregen; nicht, Mit- leid und Schrecken. Es iſt wahr, das Schrecken iſt eine Gattung der Furcht; es iſt eine plötzli- che, überraſchende Furcht. Aber eben dieſes Plötzliche, dieſes Ueberraſchende, welches die Jdee deſſelben einſchließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen ſich hier die Einführung des Wortes Schrecken, anſtatt des Wortes Furcht,
her-
Y 2
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0177"n="171"/><p>Aber dieſes Schrecken iſt ſo wenig eine von<lb/>
den Abſichten des Trauerſpiels, daß es vielmehr<lb/>
die alten Dichter auf alle Weiſe zu mindern<lb/>ſuchten, wenn ihre Perſonen irgend ein großes<lb/>
Verbrechen begehen mußten. Sie ſchoben öf-<lb/>
ters lieber die Schuld auf das Schickſal, mach-<lb/>
ten das Verbrechen lieber zu einem Verhäng-<lb/>
niſſe einer rächenden Gottheit, verwandelten<lb/>
lieber den freyen Menſchen in eine Maſchine:<lb/>
ehe ſie uns bey der gräßlichen Jdee wollten ver-<lb/>
weilen laſſen, daß der Menſch von Natur einer<lb/>ſolchen Verderbniß fähig ſey.</p><lb/><p>Bey den Franzoſen führt Crebillon den Bey-<lb/>
namen des Schrecklichen. Jch fürchte ſehr,<lb/>
mehr von dieſem Schrecken, welches in der Tra-<lb/>
gödie nicht ſeyn ſollte, als von dem echten, das<lb/>
der Philoſoph zu dem Weſen der Tragödie rech-<lb/>
net.</p><lb/><p>Und dieſes — hätte man gar nicht Schrecken<lb/>
nennen ſollen. Das Wort, welches Ariſtote-<lb/>
les braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht,<lb/>ſagt er, ſoll die Tragödie erregen; nicht, Mit-<lb/>
leid und Schrecken. Es iſt wahr, das Schrecken<lb/>
iſt eine Gattung der Furcht; es iſt eine plötzli-<lb/>
che, überraſchende Furcht. Aber eben dieſes<lb/>
Plötzliche, dieſes Ueberraſchende, welches die<lb/>
Jdee deſſelben einſchließt, zeiget deutlich, daß<lb/>
die, von welchen ſich hier die Einführung des<lb/>
Wortes Schrecken, anſtatt des Wortes Furcht,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Y 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">her-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[171/0177]
Aber dieſes Schrecken iſt ſo wenig eine von
den Abſichten des Trauerſpiels, daß es vielmehr
die alten Dichter auf alle Weiſe zu mindern
ſuchten, wenn ihre Perſonen irgend ein großes
Verbrechen begehen mußten. Sie ſchoben öf-
ters lieber die Schuld auf das Schickſal, mach-
ten das Verbrechen lieber zu einem Verhäng-
niſſe einer rächenden Gottheit, verwandelten
lieber den freyen Menſchen in eine Maſchine:
ehe ſie uns bey der gräßlichen Jdee wollten ver-
weilen laſſen, daß der Menſch von Natur einer
ſolchen Verderbniß fähig ſey.
Bey den Franzoſen führt Crebillon den Bey-
namen des Schrecklichen. Jch fürchte ſehr,
mehr von dieſem Schrecken, welches in der Tra-
gödie nicht ſeyn ſollte, als von dem echten, das
der Philoſoph zu dem Weſen der Tragödie rech-
net.
Und dieſes — hätte man gar nicht Schrecken
nennen ſollen. Das Wort, welches Ariſtote-
les braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht,
ſagt er, ſoll die Tragödie erregen; nicht, Mit-
leid und Schrecken. Es iſt wahr, das Schrecken
iſt eine Gattung der Furcht; es iſt eine plötzli-
che, überraſchende Furcht. Aber eben dieſes
Plötzliche, dieſes Ueberraſchende, welches die
Jdee deſſelben einſchließt, zeiget deutlich, daß
die, von welchen ſich hier die Einführung des
Wortes Schrecken, anſtatt des Wortes Furcht,
her-
Y 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/177>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.