spät beygefallen. Er hätte ihn können gekannt ha- ben, und doch eben so original geblieben seyn, als er itzt ist: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte.
Wäre mir indeß eben das begegnet, so würde ich Shakespears Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge un- mittelbar darinn zu erkennen, nicht vermögend gewesen wäre. -- Aber woher weiß ich, daß Herr Weiß dieses nicht gethan? Und warum sollte er es nicht gethan haben?
Kann es nicht eben so wohl seyn, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr Recht hat, als ich? Jch bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtentheils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn er- innern, sie während der Arbeit sich selbst ge- macht, und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten seyn, sie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über sein Werk urtheilet; schaal oder gründlich, links oder rechts, gutar- tig oder hämisch, alles gilt ihm gleich; und auch
das
ſpät beygefallen. Er hätte ihn können gekannt ha- ben, und doch eben ſo original geblieben ſeyn, als er itzt iſt: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte.
Wäre mir indeß eben das begegnet, ſo würde ich Shakeſpears Werk wenigſtens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwiſchen, die mein Auge un- mittelbar darinn zu erkennen, nicht vermögend geweſen wäre. — Aber woher weiß ich, daß Herr Weiß dieſes nicht gethan? Und warum ſollte er es nicht gethan haben?
Kann es nicht eben ſo wohl ſeyn, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und iſt es nicht ſehr wahrſcheinlich, daß er mehr Recht hat, als ich? Jch bin überzeugt, daß das Auge des Künſtlers größtentheils viel ſcharfſichtiger iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm dieſe machen, wird er ſich von neunzehn er- innern, ſie während der Arbeit ſich ſelbſt ge- macht, und ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über ſein Werk urtheilet; ſchaal oder gründlich, links oder rechts, gutar- tig oder hämiſch, alles gilt ihm gleich; und auch
das
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ſpät beygefallen. Er hätte ihn können gekannt ha-
ben, und doch eben ſo original geblieben ſeyn, als er
itzt iſt: er hätte ihn können genutzt haben, ohne
daß eine einzige übergetragene Gedanke davon
gezeugt hätte.
Wäre mir indeß eben das begegnet, ſo würde
ich Shakeſpears Werk wenigſtens nachher als
einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke
alle die Flecken abzuwiſchen, die mein Auge un-
mittelbar darinn zu erkennen, nicht vermögend
geweſen wäre. — Aber woher weiß ich, daß
Herr Weiß dieſes nicht gethan? Und warum
ſollte er es nicht gethan haben?
Kann es nicht eben ſo wohl ſeyn, daß er das,
was ich für dergleichen Flecken halte, für keine
hält? Und iſt es nicht ſehr wahrſcheinlich, daß
er mehr Recht hat, als ich? Jch bin überzeugt,
daß das Auge des Künſtlers größtentheils viel
ſcharfſichtiger iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner
Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die
ihm dieſe machen, wird er ſich von neunzehn er-
innern, ſie während der Arbeit ſich ſelbſt ge-
macht, und ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet
zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie
auch von andern machen zu hören: denn er hat
es gern, daß man über ſein Werk urtheilet;
ſchaal oder gründlich, links oder rechts, gutar-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/173>, abgerufen am 24.11.2024.
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