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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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Wir würden nothwendig zurückkommen, und
das, was wir von beiden Gattungen erst be-
hauptet, widerrufen müssen. Aber wie müßten
wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierig-
keiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer
solchen Haupt- und Staats-Action, über deren
Güte wir streiten, mit dem menschlichen Leben,
mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so
richtig!

Jch will einige Gedanken herwerfen, die,
wenn sie nicht gründlich genug sind, doch gründ-
lichere veranlassen können. -- Der Hauptge-
danke ist dieser: es ist wahr, und auch nicht
wahr, daß die komische Tragödie, gothischer
Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie
ahmet sie nur in einer Helfte getreu nach, und
vernachläßiget die andere Helfte gänzlich; sie
ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne
im geringsten auf die Natur unserer Empfin-
dungen und Seelenkräfte dabey zu achten.

Jn der Natur ist alles mit allem verbunden;
alles durchkreutzt sich, alles wechselt mit allem,
alles verändert sich eines in das andere. Aber
nach dieser unendlichen Mannichfaltigkeit ist sie
nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist.
Um endliche Geister an dem Genusse desselben
Antheil nehmen zu lassen, mußten diese das
Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben,
die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern,

und

Wir würden nothwendig zurückkommen, und
das, was wir von beiden Gattungen erſt be-
hauptet, widerrufen müſſen. Aber wie müßten
wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierig-
keiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer
ſolchen Haupt- und Staats-Action, über deren
Güte wir ſtreiten, mit dem menſchlichen Leben,
mit dem gemeinen Laufe der Welt, iſt doch ſo
richtig!

Jch will einige Gedanken herwerfen, die,
wenn ſie nicht gründlich genug ſind, doch gründ-
lichere veranlaſſen können. — Der Hauptge-
danke iſt dieſer: es iſt wahr, und auch nicht
wahr, daß die komiſche Tragödie, gothiſcher
Erfindung, die Natur getreu nachahmet; ſie
ahmet ſie nur in einer Helfte getreu nach, und
vernachläßiget die andere Helfte gänzlich; ſie
ahmet die Natur der Erſcheinungen nach, ohne
im geringſten auf die Natur unſerer Empfin-
dungen und Seelenkräfte dabey zu achten.

Jn der Natur iſt alles mit allem verbunden;
alles durchkreutzt ſich, alles wechſelt mit allem,
alles verändert ſich eines in das andere. Aber
nach dieſer unendlichen Mannichfaltigkeit iſt ſie
nur ein Schauſpiel für einen unendlichen Geiſt.
Um endliche Geiſter an dem Genuſſe deſſelben
Antheil nehmen zu laſſen, mußten dieſe das
Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben,
die ſie nicht hat; das Vermögen abzuſondern,

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[140/0146] Wir würden nothwendig zurückkommen, und das, was wir von beiden Gattungen erſt be- hauptet, widerrufen müſſen. Aber wie müßten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierig- keiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer ſolchen Haupt- und Staats-Action, über deren Güte wir ſtreiten, mit dem menſchlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, iſt doch ſo richtig! Jch will einige Gedanken herwerfen, die, wenn ſie nicht gründlich genug ſind, doch gründ- lichere veranlaſſen können. — Der Hauptge- danke iſt dieſer: es iſt wahr, und auch nicht wahr, daß die komiſche Tragödie, gothiſcher Erfindung, die Natur getreu nachahmet; ſie ahmet ſie nur in einer Helfte getreu nach, und vernachläßiget die andere Helfte gänzlich; ſie ahmet die Natur der Erſcheinungen nach, ohne im geringſten auf die Natur unſerer Empfin- dungen und Seelenkräfte dabey zu achten. Jn der Natur iſt alles mit allem verbunden; alles durchkreutzt ſich, alles wechſelt mit allem, alles verändert ſich eines in das andere. Aber nach dieſer unendlichen Mannichfaltigkeit iſt ſie nur ein Schauſpiel für einen unendlichen Geiſt. Um endliche Geiſter an dem Genuſſe deſſelben Antheil nehmen zu laſſen, mußten dieſe das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die ſie nicht hat; das Vermögen abzuſondern, und

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/146>, abgerufen am 09.11.2024.