Die Worte getreu und verschönert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegen- stande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Mißdeutungen unterworfen. Es giebt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche man zu getreu nachahmen könne; selbst was uns in der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es giebt andere, welche die Verschönerung der Na- tur für eine Grille halten; eine Natur, die schöner seyn wolle, als die Natur, sey eben darum nicht Natur. Beide erklären sich für Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also müßte noth- wendig das gothische Mischspiel gefallen; so wie diese Mühe haben würden, an den Meister- stücken der Alten Geschmack zu finden.
Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so große Bewunderer sie auch von der ge- meinsten und alttäglichsten Natur sind, sich den- noch wider die Vermischung des Possenhaften und Jnteressanten erklärten? Wann diese, so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schöner seyn will, als die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten Anstoß von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen Widerspruch erklären?
Wir
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Die Worte getreu und verſchönert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegen- ſtande der Nachahmung, gebraucht, ſind vielen Mißdeutungen unterworfen. Es giebt Leute, die von keiner Natur wiſſen wollen, welche man zu getreu nachahmen könne; ſelbſt was uns in der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es giebt andere, welche die Verſchönerung der Na- tur für eine Grille halten; eine Natur, die ſchöner ſeyn wolle, als die Natur, ſey eben darum nicht Natur. Beide erklären ſich für Verehrer der einzigen Natur, ſo wie ſie iſt: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; dieſe nichts hinzuzuſetzen. Jenen alſo müßte noth- wendig das gothiſche Miſchſpiel gefallen; ſo wie dieſe Mühe haben würden, an den Meiſter- ſtücken der Alten Geſchmack zu finden.
Wann dieſes nun aber nicht erfolgte? Wann jene, ſo große Bewunderer ſie auch von der ge- meinſten und alttäglichſten Natur ſind, ſich den- noch wider die Vermiſchung des Poſſenhaften und Jntereſſanten erklärten? Wann dieſe, ſo ungeheuer ſie auch alles finden, was beſſer und ſchöner ſeyn will, als die Natur, dennoch das ganze griechiſche Theater, ohne den geringſten Anſtoß von dieſer Seite, durchwandelten? Wie wollten wir dieſen Widerſpruch erklären?
Wir
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Die Worte getreu und verſchönert, von der
Nachahmung und der Natur, als dem Gegen-
ſtande der Nachahmung, gebraucht, ſind vielen
Mißdeutungen unterworfen. Es giebt Leute,
die von keiner Natur wiſſen wollen, welche man
zu getreu nachahmen könne; ſelbſt was uns in
der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen
Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es
giebt andere, welche die Verſchönerung der Na-
tur für eine Grille halten; eine Natur, die
ſchöner ſeyn wolle, als die Natur, ſey eben
darum nicht Natur. Beide erklären ſich für
Verehrer der einzigen Natur, ſo wie ſie iſt:
jene finden in ihr nichts zu vermeiden; dieſe
nichts hinzuzuſetzen. Jenen alſo müßte noth-
wendig das gothiſche Miſchſpiel gefallen; ſo wie
dieſe Mühe haben würden, an den Meiſter-
ſtücken der Alten Geſchmack zu finden.
Wann dieſes nun aber nicht erfolgte? Wann
jene, ſo große Bewunderer ſie auch von der ge-
meinſten und alttäglichſten Natur ſind, ſich den-
noch wider die Vermiſchung des Poſſenhaften
und Jntereſſanten erklärten? Wann dieſe, ſo
ungeheuer ſie auch alles finden, was beſſer und
ſchöner ſeyn will, als die Natur, dennoch das
ganze griechiſche Theater, ohne den geringſten
Anſtoß von dieſer Seite, durchwandelten? Wie
wollten wir dieſen Widerſpruch erklären?
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/145>, abgerufen am 24.11.2024.
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