Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese
Stelle anführe. Jst es wahr, daß uns die
Natur selbst, in dieser Vermengung des Ge-
meinen und Erhabnen, des Possirlichen und
Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum
Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es
wahr ist, so hat Lope mehr gethan, als er sich
vornahm; er hat nicht blos die Fehler seiner
Bühne beschöniget; er hat eigentlich erwiesen,
daß wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn
nichts kann ein Fehler seyn, was eine Nachah-
mung der Natur ist.

"Man tadelt, sagt einer von unsern neuesten
Scribenten, "an Shakespear, -- demjenigen un-
"ter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen,
"vom Könige bis zum Bettler, und von Julius
"Cäsar bis zu Jak Fallstaff, am besten gekannt,
"und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui-
"tion durch und durch gesehen hat, -- daß seine
"Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehler-
"haften unregelmäßigen und schlecht ausgesonne-
"nen Plan haben; daß komisches und tragisches
"darinn auf die seltsamste Art durch einander
"geworfen ist, und oft eben dieselbe Person, die
"uns durch die rührende Sprache der Natur,
"Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen
"Augenblicken darauf uns durch irgend einen
"seltsamen Einfall oder barokischen Ausdruck

"ihrer

Die letzten Worte ſind es, weswegen ich dieſe
Stelle anführe. Jſt es wahr, daß uns die
Natur ſelbſt, in dieſer Vermengung des Ge-
meinen und Erhabnen, des Poſſirlichen und
Ernſthaften, des Luſtigen und Traurigen, zum
Muſter dienet? Es ſcheinet ſo. Aber wenn es
wahr iſt, ſo hat Lope mehr gethan, als er ſich
vornahm; er hat nicht blos die Fehler ſeiner
Bühne beſchöniget; er hat eigentlich erwieſen,
daß wenigſtens dieſer Fehler keiner iſt; denn
nichts kann ein Fehler ſeyn, was eine Nachah-
mung der Natur iſt.

„Man tadelt, ſagt einer von unſern neueſten
Scribenten, „an Shakeſpear, — demjenigen un-
„ter allen Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen,
„vom Könige bis zum Bettler, und von Julius
„Cäſar bis zu Jak Fallſtaff, am beſten gekannt,
„und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui-
„tion durch und durch geſehen hat, — daß ſeine
„Stücke keinen, oder doch nur einen ſehr fehler-
„haften unregelmäßigen und ſchlecht ausgeſonne-
„nen Plan haben; daß komiſches und tragiſches
„darinn auf die ſeltſamſte Art durch einander
„geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die
„uns durch die rührende Sprache der Natur,
„Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen
„Augenblicken darauf uns durch irgend einen
„ſeltſamen Einfall oder barokiſchen Ausdruck

„ihrer
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0138" n="132"/>
        <p>Die letzten Worte &#x017F;ind es, weswegen ich die&#x017F;e<lb/>
Stelle anführe. J&#x017F;t es wahr, daß uns die<lb/>
Natur &#x017F;elb&#x017F;t, in die&#x017F;er Vermengung des Ge-<lb/>
meinen und Erhabnen, des Po&#x017F;&#x017F;irlichen und<lb/>
Ern&#x017F;thaften, des Lu&#x017F;tigen und Traurigen, zum<lb/>
Mu&#x017F;ter dienet? Es &#x017F;cheinet &#x017F;o. Aber wenn es<lb/>
wahr i&#x017F;t, &#x017F;o hat Lope mehr gethan, als er &#x017F;ich<lb/>
vornahm; er hat nicht blos die Fehler &#x017F;einer<lb/>
Bühne be&#x017F;chöniget; er hat eigentlich erwie&#x017F;en,<lb/>
daß wenig&#x017F;tens die&#x017F;er Fehler keiner i&#x017F;t; denn<lb/>
nichts kann ein Fehler &#x017F;eyn, was eine Nachah-<lb/>
mung der Natur i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Man tadelt, &#x017F;agt einer von un&#x017F;ern neue&#x017F;ten<lb/>
Scribenten, &#x201E;an Shake&#x017F;pear, &#x2014; demjenigen un-<lb/>
&#x201E;ter allen Dichtern &#x017F;eit Homer, der die Men&#x017F;chen,<lb/>
&#x201E;vom Könige bis zum Bettler, und von Julius<lb/>
&#x201E;&#x017F;ar bis zu Jak Fall&#x017F;taff, am be&#x017F;ten gekannt,<lb/>
&#x201E;und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui-<lb/>
&#x201E;tion durch und durch ge&#x017F;ehen hat, &#x2014; daß &#x017F;eine<lb/>
&#x201E;Stücke keinen, oder doch nur einen &#x017F;ehr fehler-<lb/>
&#x201E;haften unregelmäßigen und &#x017F;chlecht ausge&#x017F;onne-<lb/>
&#x201E;nen Plan haben; daß komi&#x017F;ches und tragi&#x017F;ches<lb/>
&#x201E;darinn auf die &#x017F;elt&#x017F;am&#x017F;te Art durch einander<lb/>
&#x201E;geworfen i&#x017F;t, und oft eben die&#x017F;elbe Per&#x017F;on, die<lb/>
&#x201E;uns durch die rührende Sprache der Natur,<lb/>
&#x201E;Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen<lb/>
&#x201E;Augenblicken darauf uns durch irgend einen<lb/>
&#x201E;&#x017F;elt&#x017F;amen Einfall oder baroki&#x017F;chen Ausdruck<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;ihrer</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0138] Die letzten Worte ſind es, weswegen ich dieſe Stelle anführe. Jſt es wahr, daß uns die Natur ſelbſt, in dieſer Vermengung des Ge- meinen und Erhabnen, des Poſſirlichen und Ernſthaften, des Luſtigen und Traurigen, zum Muſter dienet? Es ſcheinet ſo. Aber wenn es wahr iſt, ſo hat Lope mehr gethan, als er ſich vornahm; er hat nicht blos die Fehler ſeiner Bühne beſchöniget; er hat eigentlich erwieſen, daß wenigſtens dieſer Fehler keiner iſt; denn nichts kann ein Fehler ſeyn, was eine Nachah- mung der Natur iſt. „Man tadelt, ſagt einer von unſern neueſten Scribenten, „an Shakeſpear, — demjenigen un- „ter allen Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen, „vom Könige bis zum Bettler, und von Julius „Cäſar bis zu Jak Fallſtaff, am beſten gekannt, „und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui- „tion durch und durch geſehen hat, — daß ſeine „Stücke keinen, oder doch nur einen ſehr fehler- „haften unregelmäßigen und ſchlecht ausgeſonne- „nen Plan haben; daß komiſches und tragiſches „darinn auf die ſeltſamſte Art durch einander „geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die „uns durch die rührende Sprache der Natur, „Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen „Augenblicken darauf uns durch irgend einen „ſeltſamen Einfall oder barokiſchen Ausdruck „ihrer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/138
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/138>, abgerufen am 24.11.2024.