mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, daß wir die Unmöglichkeit davon erweisen können; ge- wisse unumstößliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und beständig so ge- genwärtig, daß ihm alles, was damit streitet, nothwendig lächerlich und abgeschmackt vorkom- men muß? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, über die sich fast eben so viel dafür als darwider sagen läßt, die nicht entschieden ist, und nicht entschieden wer- den kann, hat die gegenwärtig herrschende Art zu denken den Gründen darwider das Ueberge- wicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrey und geben den Ton; der größte Haufe schweigt und verhält sich gleich- gültig, und denkt bald so, bald anders, hört beym hellen Tage mit Vergnügen über die Ge- spenster spotten, und bey dunkler Nacht mit Grausen davon erzehlen.
Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dich- ter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch da-
von
mehr? Wer ſagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es ſo viel: wir ſind endlich in unſern Einſichten ſo weit gekommen, daß wir die Unmoͤglichkeit davon erweiſen koͤnnen; ge- wiſſe unumſtoͤßliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Geſpenſter im Widerſpruche ſtehen, ſind ſo allgemein bekannt worden, ſind auch dem gemeinſten Manne immer und beſtaͤndig ſo ge- genwaͤrtig, daß ihm alles, was damit ſtreitet, nothwendig laͤcherlich und abgeſchmackt vorkom- men muß? Das kann es nicht heiſſen. Wir glauben itzt keine Geſpenſter, kann alſo nur ſo viel heiſſen: in dieſer Sache, uͤber die ſich faſt eben ſo viel dafuͤr als darwider ſagen laͤßt, die nicht entſchieden iſt, und nicht entſchieden wer- den kann, hat die gegenwaͤrtig herrſchende Art zu denken den Gruͤnden darwider das Ueberge- wicht gegeben; einige wenige haben dieſe Art zu denken, und viele wollen ſie zu haben ſcheinen; dieſe machen das Geſchrey und geben den Ton; der groͤßte Haufe ſchweigt und verhaͤlt ſich gleich- guͤltig, und denkt bald ſo, bald anders, hoͤrt beym hellen Tage mit Vergnuͤgen uͤber die Ge- ſpenſter ſpotten, und bey dunkler Nacht mit Grauſen davon erzehlen.
Aber in dieſem Verſtande keine Geſpenſter glauben, kann und darf den dramatiſchen Dich- ter im geringſten nicht abhalten, Gebrauch da-
von
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0098"n="84"/>
mehr? Wer ſagt das? Oder vielmehr, was<lb/>
heißt das? Heißt es ſo viel: wir ſind endlich<lb/>
in unſern Einſichten ſo weit gekommen, daß wir<lb/>
die Unmoͤglichkeit davon erweiſen koͤnnen; ge-<lb/>
wiſſe unumſtoͤßliche Wahrheiten, die mit dem<lb/>
Glauben an Geſpenſter im Widerſpruche ſtehen,<lb/>ſind ſo allgemein bekannt worden, ſind auch dem<lb/>
gemeinſten Manne immer und beſtaͤndig ſo ge-<lb/>
genwaͤrtig, daß ihm alles, was damit ſtreitet,<lb/>
nothwendig laͤcherlich und abgeſchmackt vorkom-<lb/>
men muß? Das kann es nicht heiſſen. Wir<lb/>
glauben itzt keine Geſpenſter, kann alſo nur ſo<lb/>
viel heiſſen: in dieſer Sache, uͤber die ſich faſt<lb/>
eben ſo viel dafuͤr als darwider ſagen laͤßt, die<lb/>
nicht entſchieden iſt, und nicht entſchieden wer-<lb/>
den kann, hat die gegenwaͤrtig herrſchende Art<lb/>
zu denken den Gruͤnden darwider das Ueberge-<lb/>
wicht gegeben; einige wenige haben dieſe Art zu<lb/>
denken, und viele wollen ſie zu haben ſcheinen;<lb/>
dieſe machen das Geſchrey und geben den Ton;<lb/>
der groͤßte Haufe ſchweigt und verhaͤlt ſich gleich-<lb/>
guͤltig, und denkt bald ſo, bald anders, hoͤrt<lb/>
beym hellen Tage mit Vergnuͤgen uͤber die Ge-<lb/>ſpenſter ſpotten, und bey dunkler Nacht mit<lb/>
Grauſen davon erzehlen.</p><lb/><p>Aber in dieſem Verſtande keine Geſpenſter<lb/>
glauben, kann und darf den dramatiſchen Dich-<lb/>
ter im geringſten nicht abhalten, Gebrauch da-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">von</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[84/0098]
mehr? Wer ſagt das? Oder vielmehr, was
heißt das? Heißt es ſo viel: wir ſind endlich
in unſern Einſichten ſo weit gekommen, daß wir
die Unmoͤglichkeit davon erweiſen koͤnnen; ge-
wiſſe unumſtoͤßliche Wahrheiten, die mit dem
Glauben an Geſpenſter im Widerſpruche ſtehen,
ſind ſo allgemein bekannt worden, ſind auch dem
gemeinſten Manne immer und beſtaͤndig ſo ge-
genwaͤrtig, daß ihm alles, was damit ſtreitet,
nothwendig laͤcherlich und abgeſchmackt vorkom-
men muß? Das kann es nicht heiſſen. Wir
glauben itzt keine Geſpenſter, kann alſo nur ſo
viel heiſſen: in dieſer Sache, uͤber die ſich faſt
eben ſo viel dafuͤr als darwider ſagen laͤßt, die
nicht entſchieden iſt, und nicht entſchieden wer-
den kann, hat die gegenwaͤrtig herrſchende Art
zu denken den Gruͤnden darwider das Ueberge-
wicht gegeben; einige wenige haben dieſe Art zu
denken, und viele wollen ſie zu haben ſcheinen;
dieſe machen das Geſchrey und geben den Ton;
der groͤßte Haufe ſchweigt und verhaͤlt ſich gleich-
guͤltig, und denkt bald ſo, bald anders, hoͤrt
beym hellen Tage mit Vergnuͤgen uͤber die Ge-
ſpenſter ſpotten, und bey dunkler Nacht mit
Grauſen davon erzehlen.
Aber in dieſem Verſtande keine Geſpenſter
glauben, kann und darf den dramatiſchen Dich-
ter im geringſten nicht abhalten, Gebrauch da-
von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/98>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.