blicken, dem die Natur so heilige Rechte über- tragen hat. Dem Rousseau muß man diesen ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gründe bey Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, daß es sich durch die äußerste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen würde: so konnte sie nur durch die plötzliche Ueberraschung der unerwar- testen Begegnung erschüttert, und in einer Art von Betäubung umgelenket werden. Die Ge- liebte sollte sich in die Tochter, verführerische Zärtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veränderung abzugewinnen, so mußte er sich entschliessen, ihr sie abzunöthigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß sie den inbrünstigsten Liebhaber dem kältesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komödie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgiebt: hätte Herr Heufeld die Wen- dung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau blos das Befremdliche jener Aufopfe- rung rechtfertigen, und das Ungewöhnliche der- selben vor dem Vorwurfe des Unnatürlichen in Sicherheit setzen wollte? -- Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan
hätte,
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blicken, dem die Natur ſo heilige Rechte uͤber- tragen hat. Dem Rouſſeau muß man dieſen auſſerordentlichen Hebel verzeihen; die Maſſe iſt zu groß, die er in Bewegung ſetzen ſoll. Da keine Gruͤnde bey Julien anſchlagen wollen; da ihr Herz in der Verfaſſung iſt, daß es ſich durch die aͤußerſte Strenge in ſeinem Entſchluſſe nur noch mehr befeſtigen wuͤrde: ſo konnte ſie nur durch die ploͤtzliche Ueberraſchung der unerwar- teſten Begegnung erſchuͤttert, und in einer Art von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge- liebte ſollte ſich in die Tochter, verfuͤhreriſche Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorſam verwandeln; da Rouſſeau kein Mittel ſahe, der Natur dieſe Veraͤnderung abzugewinnen, ſo mußte er ſich entſchlieſſen, ihr ſie abzunoͤthigen, oder, wenn man will, abzuſtehlen. Auf keine andere Weiſe konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß ſie den inbruͤnſtigſten Liebhaber dem kaͤlteſten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da dieſe Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, ſondern der Vater iſt, der endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen- dung nicht ein wenig lindern ſollen, durch die Rouſſeau blos das Befremdliche jener Aufopfe- rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der- ſelben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in Sicherheit ſetzen wollte? — Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan
haͤtte,
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blicken, dem die Natur ſo heilige Rechte uͤber-
tragen hat. Dem Rouſſeau muß man dieſen
auſſerordentlichen Hebel verzeihen; die Maſſe
iſt zu groß, die er in Bewegung ſetzen ſoll. Da
keine Gruͤnde bey Julien anſchlagen wollen; da
ihr Herz in der Verfaſſung iſt, daß es ſich durch
die aͤußerſte Strenge in ſeinem Entſchluſſe nur
noch mehr befeſtigen wuͤrde: ſo konnte ſie nur
durch die ploͤtzliche Ueberraſchung der unerwar-
teſten Begegnung erſchuͤttert, und in einer Art
von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge-
liebte ſollte ſich in die Tochter, verfuͤhreriſche
Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorſam verwandeln;
da Rouſſeau kein Mittel ſahe, der Natur dieſe
Veraͤnderung abzugewinnen, ſo mußte er ſich
entſchlieſſen, ihr ſie abzunoͤthigen, oder, wenn
man will, abzuſtehlen. Auf keine andere Weiſe
konnten wir es Julien in der Folge vergeben,
daß ſie den inbruͤnſtigſten Liebhaber dem kaͤlteſten
Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da dieſe
Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da
es nicht die Tochter, ſondern der Vater iſt, der
endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen-
dung nicht ein wenig lindern ſollen, durch die
Rouſſeau blos das Befremdliche jener Aufopfe-
rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der-
ſelben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in
Sicherheit ſetzen wollte? — Doch Kritik, und
kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan
haͤtte,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/83>, abgerufen am 25.11.2024.
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