Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewäh- let hatte, wird beym Rousseau nur kaum be- rührt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er läßt den Vater, die Tochter zu Boden stoßen. Ich war um die Ausführung dieser Aktion be- sorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl concertiret; es ward, von Sei- ten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabey beobachtet, und dieser Anstand that der Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir geste- hen mußte, diesen Akteurs könne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver- langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf- gehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb seyn, daß dieses unter- lassen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Fällen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich sehen.
Die darauf folgende Scene ist die hervor- ragendste des ganzen Stückes. Sie gehört dem Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Un- wille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fußfällig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kränket uns, denjenigen so erniedriget zu er-
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Gemahle nehmen ſoll, als den ihr Herz gewaͤh- let hatte, wird beym Rouſſeau nur kaum be- ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden ſtoßen. Ich war um die Ausfuͤhrung dieſer Aktion be- ſorgt. Aber vergebens; unſere Schauſpieler hatten ſie ſo wohl concertiret; es ward, von Sei- ten des Vaters und der Tochter, ſo viel Anſtand dabey beobachtet, und dieſer Anſtand that der Wahrheit ſo wenig Abbruch, daß ich mir geſte- hen mußte, dieſen Akteurs koͤnne man ſo etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver- langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf- gehoben wird, ſich in ihrem Geſichte Blut zeigen ſoll. Es kann ihm lieb ſeyn, daß dieſes unter- laſſen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn in ſolchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu ſehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich ſehen.
Die darauf folgende Scene iſt die hervor- ragendſte des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem Rouſſeau. Ich weiß ſelbſt nicht, welcher Un- wille ſich in die Empfindung des Pathetiſchen miſchet, wenn wir einen Vater ſeine Tochter fußfaͤllig um etwas bitten ſehen. Es beleidiget, es kraͤnket uns, denjenigen ſo erniedriget zu er-
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Gemahle nehmen ſoll, als den ihr Herz gewaͤh-
let hatte, wird beym Rouſſeau nur kaum be-
ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns
eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe
es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er
laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden ſtoßen.
Ich war um die Ausfuͤhrung dieſer Aktion be-
ſorgt. Aber vergebens; unſere Schauſpieler
hatten ſie ſo wohl concertiret; es ward, von Sei-
ten des Vaters und der Tochter, ſo viel Anſtand
dabey beobachtet, und dieſer Anſtand that der
Wahrheit ſo wenig Abbruch, daß ich mir geſte-
hen mußte, dieſen Akteurs koͤnne man ſo etwas
anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver-
langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf-
gehoben wird, ſich in ihrem Geſichte Blut zeigen
ſoll. Es kann ihm lieb ſeyn, daß dieſes unter-
laſſen worden. Die Pantomime muß nie bis zu
dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn
in ſolchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft
Blut zu ſehen glaubt; aber das Auge muß es
nicht wirklich ſehen.
Die darauf folgende Scene iſt die hervor-
ragendſte des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem
Rouſſeau. Ich weiß ſelbſt nicht, welcher Un-
wille ſich in die Empfindung des Pathetiſchen
miſchet, wenn wir einen Vater ſeine Tochter
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/82>, abgerufen am 22.11.2024.
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