fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Mißtrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre günstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vier und zwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schätzung, die größten. Wie traf es sich denn indeß, daß vier und zwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwey äußersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umständen nur immer einfallen können? Die Gelegenheiten sind auch darnach; könnte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie möchten aber noch so natürlich herbeygeführet, noch so fein behandelt seyn: so würden darum die Narrhei- ten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre üble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stürmischen Scheinweisen, nicht ver- lieren. Daß er schlecht handele, sehen wir: daß er gut handeln könne, hören wir nur, und nicht einmal in Beyspielen, sondern in den all- gemeinsten schwankendsten Ausdrücken.
Die Härte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum
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fangen wir vielmehr an, in die Einſicht aller dieſer Perſonen ein Mißtrauen zu ſetzen, wenn wir nie mit unſern eigenen Augen etwas ſehen, was ihre guͤnſtige Meinung rechtfertiget. Es iſt wahr, in vier und zwanzig Stunden kann eine Privatperſon nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinſten kann ſich der Charakter ſchildern; und nur die, welche das meiſte Licht auf ihn werfen, ſind, nach der poetiſchen Schaͤtzung, die groͤßten. Wie traf es ſich denn indeß, daß vier und zwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwey aͤußerſten Narrheiten Gelegenheit zu ſchaffen, die einem Menſchen in ſeinen Umſtaͤnden nur immer einfallen koͤnnen? Die Gelegenheiten ſind auch darnach; koͤnnte der Verfaſſer antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moͤchten aber noch ſo natuͤrlich herbeygefuͤhret, noch ſo fein behandelt ſeyn: ſo wuͤrden darum die Narrhei- ten ſelbſt, die wir ihn zu begehen im Begriffe ſehen, ihre uͤble Wirkung auf unſere Idee von dem jungen ſtuͤrmiſchen Scheinweiſen, nicht ver- lieren. Daß er ſchlecht handele, ſehen wir: daß er gut handeln koͤnne, hoͤren wir nur, und nicht einmal in Beyſpielen, ſondern in den all- gemeinſten ſchwankendſten Ausdruͤcken.
Die Haͤrte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da ſie einen andern von ihm zum
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fangen wir vielmehr an, in die Einſicht aller
dieſer Perſonen ein Mißtrauen zu ſetzen, wenn
wir nie mit unſern eigenen Augen etwas ſehen,
was ihre guͤnſtige Meinung rechtfertiget. Es
iſt wahr, in vier und zwanzig Stunden kann
eine Privatperſon nicht viel große Handlungen
verrichten. Aber wer verlangt denn große?
Auch in den kleinſten kann ſich der Charakter
ſchildern; und nur die, welche das meiſte Licht
auf ihn werfen, ſind, nach der poetiſchen
Schaͤtzung, die groͤßten. Wie traf es ſich
denn indeß, daß vier und zwanzig Stunden
Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwey
aͤußerſten Narrheiten Gelegenheit zu ſchaffen,
die einem Menſchen in ſeinen Umſtaͤnden nur
immer einfallen koͤnnen? Die Gelegenheiten ſind
auch darnach; koͤnnte der Verfaſſer antworten:
doch das wird er wohl nicht. Sie moͤchten aber
noch ſo natuͤrlich herbeygefuͤhret, noch ſo fein
behandelt ſeyn: ſo wuͤrden darum die Narrhei-
ten ſelbſt, die wir ihn zu begehen im Begriffe
ſehen, ihre uͤble Wirkung auf unſere Idee von
dem jungen ſtuͤrmiſchen Scheinweiſen, nicht ver-
lieren. Daß er ſchlecht handele, ſehen wir:
daß er gut handeln koͤnne, hoͤren wir nur, und
nicht einmal in Beyſpielen, ſondern in den all-
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Die Haͤrte, mit der Julien von ihrem Vater
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/81>, abgerufen am 22.11.2024.
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