wird, als ob wir hätten weinen können, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden hätte.
Melanide ist kein Meisterstück von dieser Gat- tung; aber man sieht es doch immer mit Ver- gnügen. Es hat sich, selbst auf dem französischen Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sey aus einem Roman, Mademoiselle de Bon- tems betittelt, entlehnet. Ich kenne diesen Ro- man nicht; aber wenn auch die Situation der zweyten Scene des dritten Akts aus ihm genom- men ist, so muß ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weßwegen ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben, wünschte.
Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweyten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muß es zum Troste des größten Haufens unserer Uebersetzer anführen, daß ihre italienischen Mitbrüder meistentheils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indeß in gute Prosa übersetzen, erfodert etwas mehr, als Genauigkeit; oder ich möchte wohl sagen, etwas anders. Allzu pünktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil unmöglich alles, was in der einen Sprache natürlich ist, es auch in der andern seyn kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich wäß-
rig
wird, als ob wir haͤtten weinen koͤnnen, wenn der Dichter ſeine Kunſt beſſer verſtanden haͤtte.
Melanide iſt kein Meiſterſtuͤck von dieſer Gat- tung; aber man ſieht es doch immer mit Ver- gnuͤgen. Es hat ſich, ſelbſt auf dem franzoͤſiſchen Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerſt geſpielt ward. Der Stoff, ſagt man, ſey aus einem Roman, Mademoiſelle de Bon- tems betittelt, entlehnet. Ich kenne dieſen Ro- man nicht; aber wenn auch die Situation der zweyten Scene des dritten Akts aus ihm genom- men iſt, ſo muß ich einen Unbekannten, anſtatt des de la Chauſſee, um das beneiden, weßwegen ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben, wuͤnſchte.
Die Ueberſetzung war nicht ſchlecht; ſie iſt unendlich beſſer, als eine italieniſche, die in dem zweyten Bande der theatraliſchen Bibliothek des Diodati ſtehet. Ich muß es zum Troſte des groͤßten Haufens unſerer Ueberſetzer anfuͤhren, daß ihre italieniſchen Mitbruͤder meiſtentheils noch weit elender ſind, als ſie. Gute Verſe indeß in gute Proſa uͤberſetzen, erfodert etwas mehr, als Genauigkeit; oder ich moͤchte wohl ſagen, etwas anders. Allzu puͤnktliche Treue macht jede Ueberſetzung ſteif, weil unmoͤglich alles, was in der einen Sprache natuͤrlich iſt, es auch in der andern ſeyn kann. Aber eine Ueberſetzung aus Verſen macht ſie zugleich waͤß-
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[58/0072]
wird, als ob wir haͤtten weinen koͤnnen, wenn
der Dichter ſeine Kunſt beſſer verſtanden haͤtte.
Melanide iſt kein Meiſterſtuͤck von dieſer Gat-
tung; aber man ſieht es doch immer mit Ver-
gnuͤgen. Es hat ſich, ſelbſt auf dem franzoͤſiſchen
Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741
zuerſt geſpielt ward. Der Stoff, ſagt man,
ſey aus einem Roman, Mademoiſelle de Bon-
tems betittelt, entlehnet. Ich kenne dieſen Ro-
man nicht; aber wenn auch die Situation der
zweyten Scene des dritten Akts aus ihm genom-
men iſt, ſo muß ich einen Unbekannten, anſtatt
des de la Chauſſee, um das beneiden, weßwegen
ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben,
wuͤnſchte.
Die Ueberſetzung war nicht ſchlecht; ſie iſt
unendlich beſſer, als eine italieniſche, die in dem
zweyten Bande der theatraliſchen Bibliothek
des Diodati ſtehet. Ich muß es zum Troſte des
groͤßten Haufens unſerer Ueberſetzer anfuͤhren,
daß ihre italieniſchen Mitbruͤder meiſtentheils
noch weit elender ſind, als ſie. Gute Verſe
indeß in gute Proſa uͤberſetzen, erfodert etwas
mehr, als Genauigkeit; oder ich moͤchte wohl
ſagen, etwas anders. Allzu puͤnktliche Treue
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/72>, abgerufen am 24.11.2024.
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