Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus
dem Schlafe schrecken sollen.

Die Kunst des Schauspielers stehet hier,
zwischen den bildenden Künsten und der Poesie,
mitten inne. Als sichtbare Mahlerey muß zwar
die Schönheit ihr höchstes Gesetz seyn; doch als
transitorische Mahlerey braucht sie ihren Stel-
lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche
die alten Kunstwerke so imponirend macht. Sie
darf sich, sie muß sich das Wilde eines Tempesta,
das Freche eines Bernini öfters erlauben; es
hat bey ihr alle das Ausdrückende, welches ihm
eigenthümlich ist, ohne das Beleidigende zu
haben, das es in den bildenden Künsten durch
den permanenten Stand erhält. Nur muß sie
nicht allzulang darinn verweilen; nur muß sie
es durch die vorhergehenden Bewegungen all-
mälig vorbereiten, und durch die darauf folgen-
den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl-
anständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle
die Stärke geben, zu der sie der Dichter in sei-
ner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist
zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittel-
bar unsern Augen verständlich machen will; und
jeder Sinn will geschmeichelt seyn, wenn er die
Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen
giebet, unverfälscht überliefern soll.

Es könnte leicht seyn, daß sich unsere Schau-
spieler bey der Mäßigung, zu der sie die Kunst

auch

und ihm das Gewiſſen verſtockter Frevler aus
dem Schlafe ſchrecken ſollen.

Die Kunſt des Schauſpielers ſtehet hier,
zwiſchen den bildenden Kuͤnſten und der Poeſie,
mitten inne. Als ſichtbare Mahlerey muß zwar
die Schoͤnheit ihr hoͤchſtes Geſetz ſeyn; doch als
tranſitoriſche Mahlerey braucht ſie ihren Stel-
lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche
die alten Kunſtwerke ſo imponirend macht. Sie
darf ſich, ſie muß ſich das Wilde eines Tempeſta,
das Freche eines Bernini oͤfters erlauben; es
hat bey ihr alle das Ausdruͤckende, welches ihm
eigenthuͤmlich iſt, ohne das Beleidigende zu
haben, das es in den bildenden Kuͤnſten durch
den permanenten Stand erhaͤlt. Nur muß ſie
nicht allzulang darinn verweilen; nur muß ſie
es durch die vorhergehenden Bewegungen all-
maͤlig vorbereiten, und durch die darauf folgen-
den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl-
anſtaͤndigen aufloͤſen; nur muß ſie ihm nie alle
die Staͤrke geben, zu der ſie der Dichter in ſei-
ner Bearbeitung treiben kann. Denn ſie iſt
zwar eine ſtumme Poeſie, aber die ſich unmittel-
bar unſern Augen verſtaͤndlich machen will; und
jeder Sinn will geſchmeichelt ſeyn, wenn er die
Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen
giebet, unverfaͤlſcht uͤberliefern ſoll.

Es koͤnnte leicht ſeyn, daß ſich unſere Schau-
ſpieler bey der Maͤßigung, zu der ſie die Kunſt

auch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0052" n="38"/>
und ihm das Gewi&#x017F;&#x017F;en ver&#x017F;tockter Frevler aus<lb/>
dem Schlafe &#x017F;chrecken &#x017F;ollen.</p><lb/>
        <p>Die Kun&#x017F;t des Schau&#x017F;pielers &#x017F;tehet hier,<lb/>
zwi&#x017F;chen den bildenden Ku&#x0364;n&#x017F;ten und der Poe&#x017F;ie,<lb/>
mitten inne. Als &#x017F;ichtbare Mahlerey muß zwar<lb/>
die Scho&#x0364;nheit ihr ho&#x0364;ch&#x017F;tes Ge&#x017F;etz &#x017F;eyn; doch als<lb/>
tran&#x017F;itori&#x017F;che Mahlerey braucht &#x017F;ie ihren Stel-<lb/>
lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche<lb/>
die alten Kun&#x017F;twerke &#x017F;o imponirend macht. Sie<lb/>
darf &#x017F;ich, &#x017F;ie muß &#x017F;ich das Wilde eines Tempe&#x017F;ta,<lb/>
das Freche eines Bernini o&#x0364;fters erlauben; es<lb/>
hat bey ihr alle das Ausdru&#x0364;ckende, welches ihm<lb/>
eigenthu&#x0364;mlich i&#x017F;t, ohne das Beleidigende zu<lb/>
haben, das es in den bildenden Ku&#x0364;n&#x017F;ten durch<lb/>
den permanenten Stand erha&#x0364;lt. Nur muß &#x017F;ie<lb/>
nicht allzulang darinn verweilen; nur muß &#x017F;ie<lb/>
es durch die vorhergehenden Bewegungen all-<lb/>
ma&#x0364;lig vorbereiten, und durch die darauf folgen-<lb/>
den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl-<lb/>
an&#x017F;ta&#x0364;ndigen auflo&#x0364;&#x017F;en; nur muß &#x017F;ie ihm nie alle<lb/>
die Sta&#x0364;rke geben, zu der &#x017F;ie der Dichter in &#x017F;ei-<lb/>
ner Bearbeitung treiben kann. Denn &#x017F;ie i&#x017F;t<lb/>
zwar eine &#x017F;tumme Poe&#x017F;ie, aber die &#x017F;ich unmittel-<lb/>
bar un&#x017F;ern Augen ver&#x017F;ta&#x0364;ndlich machen will; und<lb/>
jeder Sinn will ge&#x017F;chmeichelt &#x017F;eyn, wenn er die<lb/>
Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen<lb/>
giebet, unverfa&#x0364;l&#x017F;cht u&#x0364;berliefern &#x017F;oll.</p><lb/>
        <p>Es ko&#x0364;nnte leicht &#x017F;eyn, daß &#x017F;ich un&#x017F;ere Schau-<lb/>
&#x017F;pieler bey der Ma&#x0364;ßigung, zu der &#x017F;ie die Kun&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">auch</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0052] und ihm das Gewiſſen verſtockter Frevler aus dem Schlafe ſchrecken ſollen. Die Kunſt des Schauſpielers ſtehet hier, zwiſchen den bildenden Kuͤnſten und der Poeſie, mitten inne. Als ſichtbare Mahlerey muß zwar die Schoͤnheit ihr hoͤchſtes Geſetz ſeyn; doch als tranſitoriſche Mahlerey braucht ſie ihren Stel- lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunſtwerke ſo imponirend macht. Sie darf ſich, ſie muß ſich das Wilde eines Tempeſta, das Freche eines Bernini oͤfters erlauben; es hat bey ihr alle das Ausdruͤckende, welches ihm eigenthuͤmlich iſt, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Kuͤnſten durch den permanenten Stand erhaͤlt. Nur muß ſie nicht allzulang darinn verweilen; nur muß ſie es durch die vorhergehenden Bewegungen all- maͤlig vorbereiten, und durch die darauf folgen- den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl- anſtaͤndigen aufloͤſen; nur muß ſie ihm nie alle die Staͤrke geben, zu der ſie der Dichter in ſei- ner Bearbeitung treiben kann. Denn ſie iſt zwar eine ſtumme Poeſie, aber die ſich unmittel- bar unſern Augen verſtaͤndlich machen will; und jeder Sinn will geſchmeichelt ſeyn, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebet, unverfaͤlſcht uͤberliefern ſoll. Es koͤnnte leicht ſeyn, daß ſich unſere Schau- ſpieler bey der Maͤßigung, zu der ſie die Kunſt auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/52
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/52>, abgerufen am 24.11.2024.