jemals gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Ac- cent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den verworrensten, holprichsten, dunkelsten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Präcision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklärung, den vollständigsten Commentar er- hält. Sie verbindet damit nicht selten ein Raf- finement, welches entweder von einer sehr glück- lichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser- klärung, welche sie dem Olint thut, noch zu hören:
"-- Erkenne mich! Ich kann nicht länger schweigen; "Verstellung oder Stolz sey niedern Seelen eigen. "Olint ist in Gefahr, und ich bin außer mir -- "Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir; "Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute, "War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite. "Dein Unglück aber reißt die ganze Seele hin, "Und itzt erkenn ich erst wie klein, wie schwach ich bin. "Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen, "Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen, "Verbrechern gleich gestellt, unglücklich und ein Christ, "Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist: "Itzt wag ichs zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!
Wie frey, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberströ-
mung
jemals gehabt hat. Ihr beſonderer Vorzug iſt eine ſehr richtige Deklamation; ein falſcher Ac- cent wird ihr ſchwerlich entwiſchen; ſie weiß den verworrenſten, holprichſten, dunkelſten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Praͤciſion zu ſagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichſte Erklaͤrung, den vollſtaͤndigſten Commentar er- haͤlt. Sie verbindet damit nicht ſelten ein Raf- finement, welches entweder von einer ſehr gluͤck- lichen Empfindung, oder von einer ſehr richtigen Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser- klaͤrung, welche ſie dem Olint thut, noch zu hoͤren:
〟— Erkenne mich! Ich kann nicht laͤnger ſchweigen; 〟Verſtellung oder Stolz ſey niedern Seelen eigen. 〟Olint iſt in Gefahr, und ich bin außer mir — 〟Bewundernd ſah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir; 〟Mein Herz, das vor ſich ſelbſt ſich zu entdecken ſcheute, 〟War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite. 〟Dein Ungluͤck aber reißt die ganze Seele hin, 〟Und itzt erkenn ich erſt wie klein, wie ſchwach ich bin. 〟Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, haſſen, 〟Da du zur Pein beſtim̃t, von jedermann verlaſſen, 〟Verbrechern gleich geſtellt, ungluͤcklich und ein Chriſt, 〟Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend biſt: 〟Itzt wag ichs zu geſtehn: itzt kenne meine Triebe!
Wie frey, wie edel war dieſer Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunſt beſeelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberſtroͤ-
mung
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0045"n="31"/>
jemals gehabt hat. Ihr beſonderer Vorzug iſt<lb/>
eine ſehr richtige Deklamation; ein falſcher Ac-<lb/>
cent wird ihr ſchwerlich entwiſchen; ſie weiß den<lb/>
verworrenſten, holprichſten, dunkelſten Vers,<lb/>
mit einer Leichtigkeit, mit einer Praͤciſion zu<lb/>ſagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichſte<lb/>
Erklaͤrung, den vollſtaͤndigſten Commentar er-<lb/>
haͤlt. Sie verbindet damit nicht ſelten ein Raf-<lb/>
finement, welches entweder von einer ſehr gluͤck-<lb/>
lichen Empfindung, oder von einer ſehr richtigen<lb/>
Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser-<lb/>
klaͤrung, welche ſie dem Olint thut, noch zu hoͤren:</p><lb/><cit><quote>〟— Erkenne mich! Ich kann nicht laͤnger ſchweigen;<lb/>〟Verſtellung oder Stolz ſey niedern Seelen eigen.<lb/>〟Olint iſt in Gefahr, und ich bin außer mir —<lb/>〟Bewundernd ſah ich oft im Krieg und Schlacht<lb/><hirendition="#et">nach dir;</hi><lb/>〟Mein Herz, das vor ſich ſelbſt ſich zu entdecken<lb/><hirendition="#et">ſcheute,</hi><lb/>〟War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im<lb/><hirendition="#et">Streite.</hi><lb/>〟Dein Ungluͤck aber reißt die ganze Seele hin,<lb/>〟Und itzt erkenn ich erſt wie klein, wie ſchwach ich bin.<lb/>〟Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, haſſen,<lb/>〟Da du zur Pein beſtim̃t, von jedermann verlaſſen,<lb/>〟Verbrechern gleich geſtellt, ungluͤcklich und ein<lb/><hirendition="#et">Chriſt,</hi><lb/>〟Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend biſt:<lb/>〟Itzt wag ichs zu geſtehn: itzt kenne meine Triebe!</quote></cit><lb/><p>Wie frey, wie edel war dieſer Ausbruch! Welches<lb/>
Feuer, welche Inbrunſt beſeelten jeden Ton! Mit<lb/>
welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberſtroͤ-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mung</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[31/0045]
jemals gehabt hat. Ihr beſonderer Vorzug iſt
eine ſehr richtige Deklamation; ein falſcher Ac-
cent wird ihr ſchwerlich entwiſchen; ſie weiß den
verworrenſten, holprichſten, dunkelſten Vers,
mit einer Leichtigkeit, mit einer Praͤciſion zu
ſagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichſte
Erklaͤrung, den vollſtaͤndigſten Commentar er-
haͤlt. Sie verbindet damit nicht ſelten ein Raf-
finement, welches entweder von einer ſehr gluͤck-
lichen Empfindung, oder von einer ſehr richtigen
Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser-
klaͤrung, welche ſie dem Olint thut, noch zu hoͤren:
〟— Erkenne mich! Ich kann nicht laͤnger ſchweigen;
〟Verſtellung oder Stolz ſey niedern Seelen eigen.
〟Olint iſt in Gefahr, und ich bin außer mir —
〟Bewundernd ſah ich oft im Krieg und Schlacht
nach dir;
〟Mein Herz, das vor ſich ſelbſt ſich zu entdecken
ſcheute,
〟War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im
Streite.
〟Dein Ungluͤck aber reißt die ganze Seele hin,
〟Und itzt erkenn ich erſt wie klein, wie ſchwach ich bin.
〟Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, haſſen,
〟Da du zur Pein beſtim̃t, von jedermann verlaſſen,
〟Verbrechern gleich geſtellt, ungluͤcklich und ein
Chriſt,
〟Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend biſt:
〟Itzt wag ichs zu geſtehn: itzt kenne meine Triebe!
Wie frey, wie edel war dieſer Ausbruch! Welches
Feuer, welche Inbrunſt beſeelten jeden Ton! Mit
welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberſtroͤ-
mung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/45>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.