dem Marquis sagen soll, daß er sich auf Meliten keine Rechnung machen könne. Auch leidet dort der Eifersüchtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über die Eifersüchtigen spot- ten, und er selbst sein Wort dazu geben muß, ungefehr auf gleiche Weise, als hier der Philo- soph, wenn er sich muß sagen lassen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sey, als daß er sich zu so einer Thorheit, wie das Heyrathen, sollte haben verleiten lassen.
Dem ohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bey seinem Stücke nothwendig das Stück des Campistron vor Augen gehabt haben müßte; und mir ist es ganz begreiflich, daß wir jenes haben könnten, wenn dieses auch nicht vor- handen wäre. Die verschiedensten Charaktere können in ähnliche Situationen gerathen; und da in der Komödie die Charaktere das Haupt- werk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich äußern zu lassen, und ins Spiel zu setzen: so muß man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stück Original oder Co- pie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragödie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind, und Schrecken und Mitleid vor- nehmlich aus den Situationen entspringt. Aehn- liche Situationen geben also ähnliche Tragödien, aber nicht ähnliche Komödien. Hingegen geben
ähn-
dem Marquis ſagen ſoll, daß er ſich auf Meliten keine Rechnung machen koͤnne. Auch leidet dort der Eiferſuͤchtige, wenn ſeine Freunde in ſeiner Gegenwart uͤber die Eiferſuͤchtigen ſpot- ten, und er ſelbſt ſein Wort dazu geben muß, ungefehr auf gleiche Weiſe, als hier der Philo- ſoph, wenn er ſich muß ſagen laſſen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorſichtig ſey, als daß er ſich zu ſo einer Thorheit, wie das Heyrathen, ſollte haben verleiten laſſen.
Dem ohngeachtet aber ſehe ich nicht, warum Destouches bey ſeinem Stuͤcke nothwendig das Stuͤck des Campiſtron vor Augen gehabt haben muͤßte; und mir iſt es ganz begreiflich, daß wir jenes haben koͤnnten, wenn dieſes auch nicht vor- handen waͤre. Die verſchiedenſten Charaktere koͤnnen in aͤhnliche Situationen gerathen; und da in der Komoͤdie die Charaktere das Haupt- werk, die Situationen aber nur die Mittel ſind, jene ſich aͤußern zu laſſen, und ins Spiel zu ſetzen: ſo muß man nicht die Situationen, ſondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man beſtimmen will, ob ein Stuͤck Original oder Co- pie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt iſt es in der Tragoͤdie, wo die Charaktere weniger weſentlich ſind, und Schrecken und Mitleid vor- nehmlich aus den Situationen entſpringt. Aehn- liche Situationen geben alſo aͤhnliche Tragoͤdien, aber nicht aͤhnliche Komoͤdien. Hingegen geben
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dem Marquis ſagen ſoll, daß er ſich auf Meliten
keine Rechnung machen koͤnne. Auch leidet
dort der Eiferſuͤchtige, wenn ſeine Freunde in
ſeiner Gegenwart uͤber die Eiferſuͤchtigen ſpot-
ten, und er ſelbſt ſein Wort dazu geben muß,
ungefehr auf gleiche Weiſe, als hier der Philo-
ſoph, wenn er ſich muß ſagen laſſen, daß er ohne
Zweifel viel zu klug und vorſichtig ſey, als daß
er ſich zu ſo einer Thorheit, wie das Heyrathen,
ſollte haben verleiten laſſen.
Dem ohngeachtet aber ſehe ich nicht, warum
Destouches bey ſeinem Stuͤcke nothwendig das
Stuͤck des Campiſtron vor Augen gehabt haben
muͤßte; und mir iſt es ganz begreiflich, daß wir
jenes haben koͤnnten, wenn dieſes auch nicht vor-
handen waͤre. Die verſchiedenſten Charaktere
koͤnnen in aͤhnliche Situationen gerathen; und
da in der Komoͤdie die Charaktere das Haupt-
werk, die Situationen aber nur die Mittel ſind,
jene ſich aͤußern zu laſſen, und ins Spiel zu ſetzen:
ſo muß man nicht die Situationen, ſondern die
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pie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt iſt
es in der Tragoͤdie, wo die Charaktere weniger
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aber nicht aͤhnliche Komoͤdien. Hingegen geben
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/421>, abgerufen am 24.11.2024.
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