den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Mörder ihres Sohnes zu rächen, unter- drückt, und dafür die Erkeunung von Seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen läßt. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweyte Scene des vierten Akts ganz vortreff- lich. Ich wünschte nur, daß die Erkennung über- haupt, die in der vierten Scene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu müssen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst hätte getheilet werden können. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggeführet wird, und die Vertiefung sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die übereilte Flucht, mit der sich Aegisth bey dem Maffei rettet, und über die Voltaire seinen Lindelle so spotten läßt. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natürlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zu ammen gebracht, und uns nicht gänzlich die ersten rührenden Ausbrüche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegen einander, vorenthalten hätte. Vielleicht würde Voltaire die Erkennung überhaupt nicht getheilet haben, wenn er seine Materie nicht hätte dehnen müssen, um fünf Akte damit vollzu- machen. Er jammert mehr als einmal über cette longue carriere de cinq actes qui est prodigieu- sement difficile a remplir sans episodes -- Und nun für diesesmal genug von der Merope!
Ham-
den wiederholten Verſuch der Merope, ſich an dem vermeinten Moͤrder ihres Sohnes zu raͤchen, unter- druͤckt, und dafuͤr die Erkeunung von Seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geſchehen laͤßt. Hier erkenne ich den Dichter, und beſonders iſt die zweyte Scene des vierten Akts ganz vortreff- lich. Ich wuͤnſchte nur, daß die Erkennung uͤber- haupt, die in der vierten Scene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu muͤſſen das Anſehen hat, mit mehrerer Kunſt haͤtte getheilet werden koͤnnen. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggefuͤhret wird, und die Vertiefung ſich hinter ihm ſchließt, iſt ein ſehr gewaltſames Mittel. Es iſt nicht ein Haar beſſer, als die uͤbereilte Flucht, mit der ſich Aegisth bey dem Maffei rettet, und uͤber die Voltaire ſeinen Lindelle ſo ſpotten laͤßt. Oder vielmehr, dieſe Flucht iſt um vieles natuͤrlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zu ammen gebracht, und uns nicht gaͤnzlich die erſten ruͤhrenden Ausbruͤche ihrer beiderſeitigen Empfindungen gegen einander, vorenthalten haͤtte. Vielleicht wuͤrde Voltaire die Erkennung uͤberhaupt nicht getheilet haben, wenn er ſeine Materie nicht haͤtte dehnen muͤſſen, um fuͤnf Akte damit vollzu- machen. Er jammert mehr als einmal uͤber cette longue carriére de cinq actes qui eſt prodigieu- ſement difficile à remplir ſans epiſodes — Und nun fuͤr dieſesmal genug von der Merope!
Ham-
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den wiederholten Verſuch der Merope, ſich an dem
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druͤckt, und dafuͤr die Erkeunung von Seiten des
Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geſchehen
laͤßt. Hier erkenne ich den Dichter, und beſonders
iſt die zweyte Scene des vierten Akts ganz vortreff-
lich. Ich wuͤnſchte nur, daß die Erkennung uͤber-
haupt, die in der vierten Scene des dritten Akts von
beiden Seiten erfolgen zu muͤſſen das Anſehen hat,
mit mehrerer Kunſt haͤtte getheilet werden koͤnnen.
Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles
weggefuͤhret wird, und die Vertiefung ſich hinter
ihm ſchließt, iſt ein ſehr gewaltſames Mittel. Es
iſt nicht ein Haar beſſer, als die uͤbereilte Flucht,
mit der ſich Aegisth bey dem Maffei rettet, und uͤber
die Voltaire ſeinen Lindelle ſo ſpotten laͤßt. Oder
vielmehr, dieſe Flucht iſt um vieles natuͤrlicher;
wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter
einmal zu ammen gebracht, und uns nicht gaͤnzlich
die erſten ruͤhrenden Ausbruͤche ihrer beiderſeitigen
Empfindungen gegen einander, vorenthalten haͤtte.
Vielleicht wuͤrde Voltaire die Erkennung uͤberhaupt
nicht getheilet haben, wenn er ſeine Materie nicht
haͤtte dehnen muͤſſen, um fuͤnf Akte damit vollzu-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/414>, abgerufen am 27.11.2024.
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