Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regie- ret hat, läßt er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beym Maffei, Aegisth von einem Räuber auf der Straße angefallen wird, läßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwey Unbekannten überfallen werden, die es ihm übel nehmen, daß er den Herkules für die Herakliden, den Gott des Tempels für die Nachkommen dessel- ben, anfleht. Anstatt daß, beym Maffei, Ae- gisth durch einen Ring in Verdacht geräth, läßt Voltaire diesen Verdacht durch eine Rü- stung entstehen, u. s. w. Aber alle diese Ver- änderungen betreffen die unerheblichsten Kleinig- keiten, die fast alle außer dem Stücke sind, und auf die Oekonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich sie Voltai- ren noch gern als Aeußerungen seines schöpferi- schen Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hät- te. Ich will mich an dem mittelsten von den angeführten Beyspielen erklären. Maffei läßt seinen Aegisth von einem Räuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern ei- ner Brücke über die Pamise; Aegisth erlegt den Räuber, und wirft den Körper in den Fluß,
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Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regie- ret hat, laͤßt er die Unruhen in Meſſene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat ſo lange in der unwahrſcheinlichſten Anarchie verharren. Anſtatt daß, beym Maffei, Aegisth von einem Raͤuber auf der Straße angefallen wird, laͤßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwey Unbekannten uͤberfallen werden, die es ihm uͤbel nehmen, daß er den Herkules fuͤr die Herakliden, den Gott des Tempels fuͤr die Nachkommen deſſel- ben, anfleht. Anſtatt daß, beym Maffei, Ae- gisth durch einen Ring in Verdacht geraͤth, laͤßt Voltaire dieſen Verdacht durch eine Ruͤ- ſtung entſtehen, u. ſ. w. Aber alle dieſe Ver- aͤnderungen betreffen die unerheblichſten Kleinig- keiten, die faſt alle außer dem Stuͤcke ſind, und auf die Oekonomie des Stuͤckes ſelbſt keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich ſie Voltai- ren noch gern als Aeußerungen ſeines ſchoͤpferi- ſchen Genies anrechnen, wenn ich nur faͤnde, daß er das, was er aͤndern zu muͤſſen vermeinte, in allen ſeinen Folgen zu aͤndern verſtanden haͤt- te. Ich will mich an dem mittelſten von den angefuͤhrten Beyſpielen erklaͤren. Maffei laͤßt ſeinen Aegisth von einem Raͤuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er ſich mit ihm auf dem Wege allein ſieht, ohnfern ei- ner Bruͤcke uͤber die Pamiſe; Aegisth erlegt den Raͤuber, und wirft den Koͤrper in den Fluß,
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Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regie-
ret hat, laͤßt er die Unruhen in Meſſene ganzer
funfzehn Jahre dauern, und den Staat ſo lange
in der unwahrſcheinlichſten Anarchie verharren.
Anſtatt daß, beym Maffei, Aegisth von einem
Raͤuber auf der Straße angefallen wird, laͤßt
er ihn in einem Tempel des Herkules von zwey
Unbekannten uͤberfallen werden, die es ihm uͤbel
nehmen, daß er den Herkules fuͤr die Herakliden,
den Gott des Tempels fuͤr die Nachkommen deſſel-
ben, anfleht. Anſtatt daß, beym Maffei, Ae-
gisth durch einen Ring in Verdacht geraͤth,
laͤßt Voltaire dieſen Verdacht durch eine Ruͤ-
ſtung entſtehen, u. ſ. w. Aber alle dieſe Ver-
aͤnderungen betreffen die unerheblichſten Kleinig-
keiten, die faſt alle außer dem Stuͤcke ſind, und
auf die Oekonomie des Stuͤckes ſelbſt keinen
Einfluß haben. Und doch wollte ich ſie Voltai-
ren noch gern als Aeußerungen ſeines ſchoͤpferi-
ſchen Genies anrechnen, wenn ich nur faͤnde,
daß er das, was er aͤndern zu muͤſſen vermeinte,
in allen ſeinen Folgen zu aͤndern verſtanden haͤt-
te. Ich will mich an dem mittelſten von den
angefuͤhrten Beyſpielen erklaͤren. Maffei laͤßt
ſeinen Aegisth von einem Raͤuber angefallen
werden, der den Augenblick abpaßt, da er ſich
mit ihm auf dem Wege allein ſieht, ohnfern ei-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/411>, abgerufen am 24.11.2024.
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