Die bloße Vermuthung, die sich etwa aus über- eintreffenden Umständen hätte ziehen lassen, daß Jon und Kreusa einander wohl näher angehen könnten, als sie meinen, würde dazu nicht hin- reichend gewesen seyn. Diese Vermuthung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhörer diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht möglich war, daß er sie einer von den handelnden Personen selbst zu dan- ken haben konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter sie ihm auf die einzige mögliche Weise ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragödie ist dadurch, was eine Tragödie seyn soll; und wenn ihr noch unwillig seyd, daß er die Form dem Wesen nach- gesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stücken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seyd belohnt! Immer- hin gefalle euch Whiteheads Kreusa, wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerinn ausfragt, im- merhin gefalle sie euch besser, als des Euripides Jon: und ich werde euch nie beneiden!
Wenn Aristoteles den Euripides den tragisch- sten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht blos darauf, daß die meisten seiner Stücke eine unglückliche Katastrophe haben; ob
ich
Die bloße Vermuthung, die ſich etwa aus uͤber- eintreffenden Umſtaͤnden haͤtte ziehen laſſen, daß Jon und Kreuſa einander wohl naͤher angehen koͤnnten, als ſie meinen, wuͤrde dazu nicht hin- reichend geweſen ſeyn. Dieſe Vermuthung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhoͤrer dieſe Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht moͤglich war, daß er ſie einer von den handelnden Perſonen ſelbſt zu dan- ken haben konnte: war es nicht immer beſſer, daß der Dichter ſie ihm auf die einzige moͤgliche Weiſe ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieſer Weiſe, was ihr wollt: genug, ſie hat ihn ſein Ziel erreichen helfen; ſeine Tragoͤdie iſt dadurch, was eine Tragoͤdie ſeyn ſoll; und wenn ihr noch unwillig ſeyd, daß er die Form dem Weſen nach- geſetzet hat, ſo verſorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuͤcken, wo das Weſen der Form aufgeopfert iſt, und ihr ſeyd belohnt! Immer- hin gefalle euch Whiteheads Kreuſa, wo euch kein Gott etwas vorausſagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verſchlagne Zigeunerinn ausfragt, im- merhin gefalle ſie euch beſſer, als des Euripides Jon: und ich werde euch nie beneiden!
Wenn Ariſtoteles den Euripides den tragiſch- ſten von allen tragiſchen Dichtern nennet, ſo ſahe er nicht blos darauf, daß die meiſten ſeiner Stuͤcke eine ungluͤckliche Kataſtrophe haben; ob
ich
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Die bloße Vermuthung, die ſich etwa aus uͤber-
eintreffenden Umſtaͤnden haͤtte ziehen laſſen, daß
Jon und Kreuſa einander wohl naͤher angehen
koͤnnten, als ſie meinen, wuͤrde dazu nicht hin-
reichend geweſen ſeyn. Dieſe Vermuthung
mußte zur Gewißheit werden; und wenn der
Zuhoͤrer dieſe Gewißheit nur von außen erhalten
konnte, wenn es nicht moͤglich war, daß er ſie
einer von den handelnden Perſonen ſelbſt zu dan-
ken haben konnte: war es nicht immer beſſer,
daß der Dichter ſie ihm auf die einzige moͤgliche
Weiſe ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieſer
Weiſe, was ihr wollt: genug, ſie hat ihn ſein
Ziel erreichen helfen; ſeine Tragoͤdie iſt dadurch,
was eine Tragoͤdie ſeyn ſoll; und wenn ihr noch
unwillig ſeyd, daß er die Form dem Weſen nach-
geſetzet hat, ſo verſorge euch eure gelehrte Kritik
mit nichts als Stuͤcken, wo das Weſen der Form
aufgeopfert iſt, und ihr ſeyd belohnt! Immer-
hin gefalle euch Whiteheads Kreuſa, wo euch
kein Gott etwas vorausſagt, wo ihr alles von
einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt,
den eine verſchlagne Zigeunerinn ausfragt, im-
merhin gefalle ſie euch beſſer, als des Euripides
Jon: und ich werde euch nie beneiden!
Wenn Ariſtoteles den Euripides den tragiſch-
ſten von allen tragiſchen Dichtern nennet, ſo
ſahe er nicht blos darauf, daß die meiſten ſeiner
Stuͤcke eine ungluͤckliche Kataſtrophe haben; ob
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/402>, abgerufen am 22.11.2024.
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