Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der Morgenandacht des Jon, und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstümmelt? Woher würdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da wäre? Behält nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, daß die Stücke, nach eurer Art zu denken, desto schö- ner seyn würden, wenn wir aus den Prologen nicht wüßten, daß der Jon, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Jon von dem Altar zu einem schmählichen Tode reissen will, die Mut- ter dieses Jon ist; wenn wir nicht wüßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte unglückliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er- fahren solle. Denn alles dieses würde die trefflichsten Ueberraschungen geben, und diese Ueberraschungen würden noch dazu vorbereitet genug seyn: ohne daß ihr sagen könntet, sie brächen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, son- dern sie entstünden; man wolle euch, nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufhef- ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man- gel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer
einen
Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen ſogleich mit der Morgenandacht des Jon, und dieſe mit den Klagen der Hekuba anfangen: ſind beide darum im geringſten verſtuͤmmelt? Woher wuͤrdet ihr, was ihr weggeſtrichen habt, vermiſſen, wenn es gar nicht da waͤre? Behaͤlt nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen Zuſammenhang? Bekennet ſogar, daß die Stuͤcke, nach eurer Art zu denken, deſto ſchoͤ- ner ſeyn wuͤrden, wenn wir aus den Prologen nicht wuͤßten, daß der Jon, welchen Kreuſa will vergiften laſſen, der Sohn dieſer Kreuſa iſt; daß die Kreuſa, welche Jon von dem Altar zu einem ſchmaͤhlichen Tode reiſſen will, die Mut- ter dieſes Jon iſt; wenn wir nicht wuͤßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte ungluͤckliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er- fahren ſolle. Denn alles dieſes wuͤrde die trefflichſten Ueberraſchungen geben, und dieſe Ueberraſchungen wuͤrden noch dazu vorbereitet genug ſeyn: ohne daß ihr ſagen koͤnntet, ſie braͤchen auf einmal gleich einem Blitze aus der helleſten Wolke hervor; ſie erfolgten nicht, ſon- dern ſie entſtuͤnden; man wolle euch, nicht auf einmal etwas entdecken, ſondern etwas aufhef- ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man- gel der Kunſt vor? Vergebt ihm doch immer
einen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0400"n="386"/>
Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt<lb/>
jenen ſogleich mit der Morgenandacht des Jon,<lb/>
und dieſe mit den Klagen der Hekuba anfangen:<lb/>ſind beide darum im geringſten verſtuͤmmelt?<lb/>
Woher wuͤrdet ihr, was ihr weggeſtrichen habt,<lb/>
vermiſſen, wenn es gar nicht da waͤre? Behaͤlt<lb/>
nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen<lb/>
Zuſammenhang? Bekennet ſogar, daß die<lb/>
Stuͤcke, nach eurer Art zu denken, deſto ſchoͤ-<lb/>
ner ſeyn wuͤrden, wenn wir aus den Prologen<lb/>
nicht wuͤßten, daß der Jon, welchen Kreuſa<lb/>
will vergiften laſſen, der Sohn dieſer Kreuſa iſt;<lb/>
daß die Kreuſa, welche Jon von dem Altar zu<lb/>
einem ſchmaͤhlichen Tode reiſſen will, die Mut-<lb/>
ter dieſes Jon iſt; wenn wir nicht wuͤßten, daß<lb/>
an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum<lb/>
Opfer hingeben muß, die alte ungluͤckliche Frau<lb/>
auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er-<lb/>
fahren ſolle. Denn alles dieſes wuͤrde die<lb/>
trefflichſten Ueberraſchungen geben, und dieſe<lb/>
Ueberraſchungen wuͤrden noch dazu vorbereitet<lb/>
genug ſeyn: ohne daß ihr ſagen koͤnntet, ſie<lb/>
braͤchen auf einmal gleich einem Blitze aus der<lb/>
helleſten Wolke hervor; ſie erfolgten nicht, ſon-<lb/>
dern ſie entſtuͤnden; man wolle euch, nicht auf<lb/>
einmal etwas entdecken, ſondern etwas aufhef-<lb/>
ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem<lb/>
Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man-<lb/>
gel der Kunſt vor? Vergebt ihm doch immer<lb/><fwplace="bottom"type="catch">einen</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[386/0400]
Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt
jenen ſogleich mit der Morgenandacht des Jon,
und dieſe mit den Klagen der Hekuba anfangen:
ſind beide darum im geringſten verſtuͤmmelt?
Woher wuͤrdet ihr, was ihr weggeſtrichen habt,
vermiſſen, wenn es gar nicht da waͤre? Behaͤlt
nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen
Zuſammenhang? Bekennet ſogar, daß die
Stuͤcke, nach eurer Art zu denken, deſto ſchoͤ-
ner ſeyn wuͤrden, wenn wir aus den Prologen
nicht wuͤßten, daß der Jon, welchen Kreuſa
will vergiften laſſen, der Sohn dieſer Kreuſa iſt;
daß die Kreuſa, welche Jon von dem Altar zu
einem ſchmaͤhlichen Tode reiſſen will, die Mut-
ter dieſes Jon iſt; wenn wir nicht wuͤßten, daß
an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum
Opfer hingeben muß, die alte ungluͤckliche Frau
auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er-
fahren ſolle. Denn alles dieſes wuͤrde die
trefflichſten Ueberraſchungen geben, und dieſe
Ueberraſchungen wuͤrden noch dazu vorbereitet
genug ſeyn: ohne daß ihr ſagen koͤnntet, ſie
braͤchen auf einmal gleich einem Blitze aus der
helleſten Wolke hervor; ſie erfolgten nicht, ſon-
dern ſie entſtuͤnden; man wolle euch, nicht auf
einmal etwas entdecken, ſondern etwas aufhef-
ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem
Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man-
gel der Kunſt vor? Vergebt ihm doch immer
einen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/400>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.