Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast immer den Zu- schauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Vertheidigung seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kriticis so sehr mißfallen. "Nicht genug, sagt Hedelin, daß er meistentheils alles, was vor der Handlung des Stücks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhörern ge- radezu erzehlen läßt, um ihnen auf diese Weise das Folgende verständlich zu machen: er nimmt auch wohl öfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen müssen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kund macht. Wir erfahren sonach gleich Anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe, und sehen jeden Zufall schon von weiten kom- men. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beständig herrschen sollen, gänzlich zuwider ist, und alle Annehmlichkeiten des Stückes vernichtet, die fast einzig und al- lein auf der Neuheit und Ueberraschung beru- hen." (*) Nein: der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschätzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit
hö-
(*)Pratique du Theatre Lib. III. chap. 1.
Unter dieſen war beſonders Euripides ſeiner Sache ſo gewiß, daß er faſt immer den Zu- ſchauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er ſie fuͤhren wollte. Ja, ich waͤre ſehr geneigt, aus dieſem Geſichtspunkte die Vertheidigung ſeiner Prologen zu uͤbernehmen, die den neuern Kriticis ſo ſehr mißfallen. 〟Nicht genug, ſagt Hedelin, daß er meiſtentheils alles, was vor der Handlung des Stuͤcks vorhergegangen, durch eine von ſeinen Hauptperſonen den Zuhoͤrern ge- radezu erzehlen laͤßt, um ihnen auf dieſe Weiſe das Folgende verſtaͤndlich zu machen: er nimmt auch wohl oͤfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen muͤſſen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geſchehen iſt, ſondern auch alles, was noch geſchehen ſoll, uns kund macht. Wir erfahren ſonach gleich Anfangs die Entwicklung und die ganze Kataſtrophe, und ſehen jeden Zufall ſchon von weiten kom- men. Dieſes aber iſt ein ſehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beſtaͤndig herrſchen ſollen, gaͤnzlich zuwider iſt, und alle Annehmlichkeiten des Stuͤckes vernichtet, die faſt einzig und al- lein auf der Neuheit und Ueberraſchung beru- hen.〟 (*) Nein: der tragiſchſte von allen tragiſchen Dichtern dachte ſo geringſchaͤtzig von ſeiner Kunſt nicht; er wußte, daß ſie einer weit
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(*)Pratique du Théatre Lib. III. chap. 1.
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[382/0396]
Unter dieſen war beſonders Euripides ſeiner
Sache ſo gewiß, daß er faſt immer den Zu-
ſchauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er
ſie fuͤhren wollte. Ja, ich waͤre ſehr geneigt,
aus dieſem Geſichtspunkte die Vertheidigung
ſeiner Prologen zu uͤbernehmen, die den neuern
Kriticis ſo ſehr mißfallen. 〟Nicht genug, ſagt
Hedelin, daß er meiſtentheils alles, was vor der
Handlung des Stuͤcks vorhergegangen, durch
eine von ſeinen Hauptperſonen den Zuhoͤrern ge-
radezu erzehlen laͤßt, um ihnen auf dieſe Weiſe
das Folgende verſtaͤndlich zu machen: er nimmt
auch wohl oͤfters einen Gott dazu, von dem wir
annehmen muͤſſen, daß er alles weiß, und durch
den er nicht allein was geſchehen iſt, ſondern
auch alles, was noch geſchehen ſoll, uns kund
macht. Wir erfahren ſonach gleich Anfangs
die Entwicklung und die ganze Kataſtrophe,
und ſehen jeden Zufall ſchon von weiten kom-
men. Dieſes aber iſt ein ſehr merklicher Fehler,
welcher der Ungewißheit und Erwartung, die
auf dem Theater beſtaͤndig herrſchen ſollen,
gaͤnzlich zuwider iſt, und alle Annehmlichkeiten
des Stuͤckes vernichtet, die faſt einzig und al-
lein auf der Neuheit und Ueberraſchung beru-
hen.〟 (*) Nein: der tragiſchſte von allen
tragiſchen Dichtern dachte ſo geringſchaͤtzig von
ſeiner Kunſt nicht; er wußte, daß ſie einer weit
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(*) Pratique du Théatre Lib. III. chap. 1.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/396>, abgerufen am 22.11.2024.
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