"ist aber doch nur eine Zierde, und keine Regel; "denn die Alten haben sich ihr nicht immer unter- "worfen u. s. w." Wie? ist die Tragödie bey den Franzosen seit ihrem großen Corneille so viel vollkommener geworden, daß das, was dieser blos für eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Fran- zosen seit ihm das Wesentliche der Tragödie noch mehr verkennen gelernt, daß sie auf Dinge einen so großen Werth legen, die im Grunde keinen ha- ben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Cor- neille immer wenigstens eben so glaubwürdig seyn, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler bey dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Vol- taire aufgehen, nach welchem er das Theater öf- ters länger voll läßt, als es bleiben sollte. Wenn z. E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Königinn kömmt, und die Königinn mit der dritten Scene abgeht, mit was für Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Königinn ver- weilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frey herauslassen sollte? Das Bedürfniß des Dichters verräth sich in der vierten Scene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir nothwendig wissen müssen, nur daß wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet hät- ten.
4. Maf-
〟iſt aber doch nur eine Zierde, und keine Regel; 〟denn die Alten haben ſich ihr nicht immer unter- 〟worfen u. ſ. w.〟 Wie? iſt die Tragoͤdie bey den Franzoſen ſeit ihrem großen Corneille ſo viel vollkommener geworden, daß das, was dieſer blos fuͤr eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler iſt? Oder haben die Fran- zoſen ſeit ihm das Weſentliche der Tragoͤdie noch mehr verkennen gelernt, daß ſie auf Dinge einen ſo großen Werth legen, die im Grunde keinen ha- ben? Bis uns dieſe Frage entſchieden iſt, mag Cor- neille immer wenigſtens eben ſo glaubwuͤrdig ſeyn, als Lindelle; und was, nach jenem, alſo eben noch kein ausgemachter Fehler bey dem Maffei iſt, mag gegen den minder ſtreitigen des Vol- taire aufgehen, nach welchem er das Theater oͤf- ters laͤnger voll laͤßt, als es bleiben ſollte. Wenn z. E., in dem erſten Akte, Polyphont zu der Koͤniginn koͤmmt, und die Koͤniginn mit der dritten Scene abgeht, mit was fuͤr Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Koͤniginn ver- weilen? Iſt dieſes Zimmer der Ort, wo er ſich gegen ſeinen Vertrauten ſo frey herauslaſſen ſollte? Das Beduͤrfniß des Dichters verraͤth ſich in der vierten Scene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir nothwendig wiſſen muͤſſen, nur daß wir ſie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haͤt- ten.
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〟iſt aber doch nur eine Zierde, und keine Regel;
〟denn die Alten haben ſich ihr nicht immer unter-
〟worfen u. ſ. w.〟 Wie? iſt die Tragoͤdie bey
den Franzoſen ſeit ihrem großen Corneille ſo viel
vollkommener geworden, daß das, was dieſer
blos fuͤr eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein
unverzeihlicher Fehler iſt? Oder haben die Fran-
zoſen ſeit ihm das Weſentliche der Tragoͤdie noch
mehr verkennen gelernt, daß ſie auf Dinge einen
ſo großen Werth legen, die im Grunde keinen ha-
ben? Bis uns dieſe Frage entſchieden iſt, mag Cor-
neille immer wenigſtens eben ſo glaubwuͤrdig ſeyn,
als Lindelle; und was, nach jenem, alſo eben
noch kein ausgemachter Fehler bey dem Maffei
iſt, mag gegen den minder ſtreitigen des Vol-
taire aufgehen, nach welchem er das Theater oͤf-
ters laͤnger voll laͤßt, als es bleiben ſollte. Wenn
z. E., in dem erſten Akte, Polyphont zu der
Koͤniginn koͤmmt, und die Koͤniginn mit der
dritten Scene abgeht, mit was fuͤr Recht kann
Polyphont in dem Zimmer der Koͤniginn ver-
weilen? Iſt dieſes Zimmer der Ort, wo er ſich
gegen ſeinen Vertrauten ſo frey herauslaſſen
ſollte? Das Beduͤrfniß des Dichters verraͤth
ſich in der vierten Scene gar zu deutlich, in der
wir zwar Dinge erfahren, die wir nothwendig
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/372>, abgerufen am 22.11.2024.
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