daß es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen könne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eräugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau- chen würden, als auf die Vorstellung dieses Ak- tes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfo- dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach- tet? Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an Einem Tage thun läßt, kann zwar an Einem Tage gethan werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es an Einem Tage thun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt daß die Ver- letzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmöglichkeit involviret, dennoch nicht immer so allgemein anstößig ist, weil diese Unmöglich- keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stücke, von einem Orte zum andern ge- reiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen;
aber
daß es einem Menſchen, der nur einen Funken von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau- chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak- tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo- dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach- tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver- letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich- keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge- reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen merklich, welche den Abſtand des einen Ortes von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen;
aber
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0370"n="356"/>
daß es einem Menſchen, der nur einen Funken<lb/>
von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich<lb/>ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was<lb/>
hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern<lb/>
Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen<lb/>
Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau-<lb/>
chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak-<lb/>
tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf<lb/>
die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch<lb/>
lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo-<lb/>
dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach-<lb/>
tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber<lb/>
nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage<lb/>
thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan<lb/>
werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es<lb/>
an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen<lb/>
Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die<lb/>
moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen<lb/>
und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver-<lb/>
letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine<lb/>
Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer<lb/>ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich-<lb/>
keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E.<lb/>
in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge-<lb/>
reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen<lb/>
ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen<lb/>
merklich, welche den Abſtand des einen Ortes<lb/>
von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht<lb/>
alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen;<lb/><fwplace="bottom"type="catch">aber</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[356/0370]
daß es einem Menſchen, der nur einen Funken
von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich
ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was
hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern
Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen
Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau-
chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak-
tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf
die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch
lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo-
dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach-
tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber
nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage
thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan
werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es
an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen
Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die
moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen
und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver-
letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine
Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer
ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich-
keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E.
in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge-
reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen
ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen
merklich, welche den Abſtand des einen Ortes
von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht
alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen;
aber
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/370>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.