Voltaire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, daß er alle Freyheit behält, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer, und macht so ängstliche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied von ihm sey an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus die- sem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es, bey der gemeinen Klasse von Kunstrichtern, noch
so
"andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause "wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst, "oder mit einem Vertrauten gesprochen, oh- "ne daß dieser Umstand auf eine wahrschein- "liche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn "die Personen nur deswegen in den angezeig- "ten Saal oder Garten kommen, um auf die "Schaubühne zu treten: so würde der Ver- "fasser des Schauspiels am besten gethan ha- "ben, anstatt der Worte, "der Schauplatz ist "ein Saal in Climenens Hause," unter das "Verzeichniß seiner Personen zu setzen: "der "Schauplatz ist auf dem Theater." Oder im "Ernste zu reden, es würde weit besser gewe- "sen seyn, wenn der Verfasser, nach dem Ge- "brauche der Engländer, die Scene aus dem "Hause des einen in das Haus eines andern "verlegt, und also den Zuschauer seinem Hel- "den nachgeführet hätte; als daß er seinem "Helden die Mühe macht, den Zuschauern zu "gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er "nichts zu thun hat."
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Voltaire ein Meiſter, ſich die Feſſeln der Kunſt ſo leicht, ſo weit zu machen, daß er alle Freyheit behaͤlt, ſich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er ſich oft ſo plump und ſchwer, und macht ſo aͤngſtliche Verdrehungen, daß man meinen ſollte, jedes Glied von ihm ſey an ein beſonderes Klotz geſchmiedet. Es koſtet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus die- ſem Geſichtspunkte zu betrachten; doch da es, bey der gemeinen Klaſſe von Kunſtrichtern, noch
ſo
〟andere, als ob ſie ebenfalls Herr vom Hauſe 〟waͤre, in aller Gelaſſenheit mit ſich ſelbſt, 〟oder mit einem Vertrauten geſprochen, oh- 〟ne daß dieſer Umſtand auf eine wahrſchein- 〟liche Weiſe entſchuldiget wird; kurz, wenn 〟die Perſonen nur deswegen in den angezeig- 〟ten Saal oder Garten kommen, um auf die 〟Schaubuͤhne zu treten: ſo wuͤrde der Ver- 〟faſſer des Schauſpiels am beſten gethan ha- 〟ben, anſtatt der Worte, 〟der Schauplatz iſt 〟ein Saal in Climenens Hauſe,〟 unter das 〟Verzeichniß ſeiner Perſonen zu ſetzen: 〟der 〟Schauplatz iſt auf dem Theater.〟 Oder im 〟Ernſte zu reden, es wuͤrde weit beſſer gewe- 〟ſen ſeyn, wenn der Verfaſſer, nach dem Ge- 〟brauche der Englaͤnder, die Scene aus dem 〟Hauſe des einen in das Haus eines andern 〟verlegt, und alſo den Zuſchauer ſeinem Hel- 〟den nachgefuͤhret haͤtte; als daß er ſeinem 〟Helden die Muͤhe macht, den Zuſchauern zu 〟gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er 〟nichts zu thun hat.〟
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Voltaire ein Meiſter, ſich die Feſſeln der Kunſt
ſo leicht, ſo weit zu machen, daß er alle Freyheit
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bewegt er ſich oft ſo plump und ſchwer, und
macht ſo aͤngſtliche Verdrehungen, daß man
meinen ſollte, jedes Glied von ihm ſey an ein
beſonderes Klotz geſchmiedet. Es koſtet mir
Ueberwindung, ein Werk des Genies aus die-
ſem Geſichtspunkte zu betrachten; doch da es,
bey der gemeinen Klaſſe von Kunſtrichtern, noch
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(*) 〟andere, als ob ſie ebenfalls Herr vom Hauſe
〟waͤre, in aller Gelaſſenheit mit ſich ſelbſt,
〟oder mit einem Vertrauten geſprochen, oh-
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〟die Perſonen nur deswegen in den angezeig-
〟ten Saal oder Garten kommen, um auf die
〟Schaubuͤhne zu treten: ſo wuͤrde der Ver-
〟faſſer des Schauſpiels am beſten gethan ha-
〟ben, anſtatt der Worte, 〟der Schauplatz iſt
〟ein Saal in Climenens Hauſe,〟 unter das
〟Verzeichniß ſeiner Perſonen zu ſetzen: 〟der
〟Schauplatz iſt auf dem Theater.〟 Oder im
〟Ernſte zu reden, es wuͤrde weit beſſer gewe-
〟ſen ſeyn, wenn der Verfaſſer, nach dem Ge-
〟brauche der Englaͤnder, die Scene aus dem
〟Hauſe des einen in das Haus eines andern
〟verlegt, und alſo den Zuſchauer ſeinem Hel-
〟den nachgefuͤhret haͤtte; als daß er ſeinem
〟Helden die Muͤhe macht, den Zuſchauern zu
〟gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er
〟nichts zu thun hat.〟
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/363>, abgerufen am 16.02.2025.
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