mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder- baren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall Einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann seyn; wir wollen es um so viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraschung gefällt. Aber daß er zum zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die nehmliche Weise, verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; eben dieselbe Ueber- raschung wiederholt, hört auf Ueberraschung zu seyn; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar eben so abentheurlich, aber nicht eben so mannichfaltig zu seyn weiß, als der Zufall.
Von den augenscheinlichen und vorsetzlichen Verfälfchungen des Lindelle, will ich nur zwey anführen. -- "Der vierte Akt, sagt er, fängt "mit einer kalten und unnöthigen Scene zwi- "schen dem Tyrannen und der Vertrauten der "Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, "ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth, "und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur "Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschla- "fen wäre, ihn die Königinn mit aller Gemäch- "lichkeit umbringen könne. Er schläft auch "wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O "schön! und die Königinn kömmt zum zweyten- "male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-
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mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder- baren deſſelben ſo verſchwenderiſch iſt, als mit den gemeinſten ordentlichſten Begebenheiten. Daß der Zufall Einmal der Mutter einen ſo frommen Dienſt erweiſet, das kann ſeyn; wir wollen es um ſo viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraſchung gefaͤllt. Aber daß er zum zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die nehmliche Weiſe, verhindern werde, das ſieht dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieſelbe Ueber- raſchung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraſchung zu ſeyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben ſo abentheurlich, aber nicht eben ſo mannichfaltig zu ſeyn weiß, als der Zufall.
Von den augenſcheinlichen und vorſetzlichen Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey anfuͤhren. — 〟Der vierte Akt, ſagt er, faͤngt 〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi- 〟ſchen dem Tyrannen und der Vertrauten der 〟Merope an; hierauf begegnet dieſe Vertraute, 〟ich weiß ſelbſt nicht wie, dem jungen Aegisth, 〟und beredet ihn, ſich in dem Vorhauſe zur 〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeſchla- 〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch- 〟lichkeit umbringen koͤnne. Er ſchlaͤft auch 〟wirklich ein, ſo wie er es verſprochen hat. O 〟ſchoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten- 〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-
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mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder-
baren deſſelben ſo verſchwenderiſch iſt, als mit
den gemeinſten ordentlichſten Begebenheiten.
Daß der Zufall Einmal der Mutter einen ſo
frommen Dienſt erweiſet, das kann ſeyn; wir
wollen es um ſo viel lieber glauben, je mehr uns
die Ueberraſchung gefaͤllt. Aber daß er zum
zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die
nehmliche Weiſe, verhindern werde, das ſieht
dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieſelbe Ueber-
raſchung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraſchung zu
ſeyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir
aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben ſo
abentheurlich, aber nicht eben ſo mannichfaltig zu
ſeyn weiß, als der Zufall.
Von den augenſcheinlichen und vorſetzlichen
Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey
anfuͤhren. — 〟Der vierte Akt, ſagt er, faͤngt
〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi-
〟ſchen dem Tyrannen und der Vertrauten der
〟Merope an; hierauf begegnet dieſe Vertraute,
〟ich weiß ſelbſt nicht wie, dem jungen Aegisth,
〟und beredet ihn, ſich in dem Vorhauſe zur
〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeſchla-
〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch-
〟lichkeit umbringen koͤnne. Er ſchlaͤft auch
〟wirklich ein, ſo wie er es verſprochen hat. O
〟ſchoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten-
〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/355>, abgerufen am 25.11.2024.
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