Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder-
baren desselben so verschwenderisch ist, als mit
den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten.
Daß der Zufall Einmal der Mutter einen so
frommen Dienst erweiset, das kann seyn; wir
wollen es um so viel lieber glauben, je mehr uns
die Ueberraschung gefällt. Aber daß er zum
zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die
nehmliche Weise, verhindern werde, das sieht
dem Zufalle nicht ähnlich; eben dieselbe Ueber-
raschung wiederholt, hört auf Ueberraschung zu
seyn; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir
ärgern uns über den Dichter, der zwar eben so
abentheurlich, aber nicht eben so mannichfaltig zu
seyn weiß, als der Zufall.

Von den augenscheinlichen und vorsetzlichen
Verfälfchungen des Lindelle, will ich nur zwey
anführen. -- "Der vierte Akt, sagt er, fängt
"mit einer kalten und unnöthigen Scene zwi-
"schen dem Tyrannen und der Vertrauten der
"Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute,
"ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth,
"und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur
"Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschla-
"fen wäre, ihn die Königinn mit aller Gemäch-
"lichkeit umbringen könne. Er schläft auch
"wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O
"schön! und die Königinn kömmt zum zweyten-
"male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-

"gen
U u 3

mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder-
baren deſſelben ſo verſchwenderiſch iſt, als mit
den gemeinſten ordentlichſten Begebenheiten.
Daß der Zufall Einmal der Mutter einen ſo
frommen Dienſt erweiſet, das kann ſeyn; wir
wollen es um ſo viel lieber glauben, je mehr uns
die Ueberraſchung gefaͤllt. Aber daß er zum
zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die
nehmliche Weiſe, verhindern werde, das ſieht
dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieſelbe Ueber-
raſchung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraſchung zu
ſeyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir
aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben ſo
abentheurlich, aber nicht eben ſo mannichfaltig zu
ſeyn weiß, als der Zufall.

Von den augenſcheinlichen und vorſetzlichen
Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey
anfuͤhren. — 〟Der vierte Akt, ſagt er, faͤngt
〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi-
〟ſchen dem Tyrannen und der Vertrauten der
〟Merope an; hierauf begegnet dieſe Vertraute,
〟ich weiß ſelbſt nicht wie, dem jungen Aegisth,
〟und beredet ihn, ſich in dem Vorhauſe zur
〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeſchla-
〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch-
〟lichkeit umbringen koͤnne. Er ſchlaͤft auch
〟wirklich ein, ſo wie er es verſprochen hat. O
〟ſchoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten-
〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-

〟gen
U u 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0355" n="341"/>
mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder-<lb/>
baren de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;o ver&#x017F;chwenderi&#x017F;ch i&#x017F;t, als mit<lb/>
den gemein&#x017F;ten ordentlich&#x017F;ten Begebenheiten.<lb/>
Daß der Zufall Einmal der Mutter einen &#x017F;o<lb/>
frommen Dien&#x017F;t erwei&#x017F;et, das kann &#x017F;eyn; wir<lb/>
wollen es um &#x017F;o viel lieber glauben, je mehr uns<lb/>
die Ueberra&#x017F;chung gefa&#x0364;llt. Aber daß er zum<lb/>
zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die<lb/>
nehmliche Wei&#x017F;e, verhindern werde, das &#x017F;ieht<lb/>
dem Zufalle nicht a&#x0364;hnlich; eben die&#x017F;elbe Ueber-<lb/>
ra&#x017F;chung wiederholt, ho&#x0364;rt auf Ueberra&#x017F;chung zu<lb/>
&#x017F;eyn; ihre Einfo&#x0364;rmigkeit beleidiget, und wir<lb/>
a&#x0364;rgern uns u&#x0364;ber den Dichter, der zwar eben &#x017F;o<lb/>
abentheurlich, aber nicht eben &#x017F;o mannichfaltig zu<lb/>
&#x017F;eyn weiß, als der Zufall.</p><lb/>
        <p>Von den augen&#x017F;cheinlichen und vor&#x017F;etzlichen<lb/>
Verfa&#x0364;lfchungen des Lindelle, will ich nur zwey<lb/>
anfu&#x0364;hren. &#x2014; <cit><quote>&#x301F;Der vierte Akt,</quote></cit> &#x017F;agt er, <cit><quote>fa&#x0364;ngt<lb/>
&#x301F;mit einer kalten und unno&#x0364;thigen Scene zwi-<lb/>
&#x301F;&#x017F;chen dem Tyrannen und der Vertrauten der<lb/>
&#x301F;Merope an; hierauf begegnet die&#x017F;e Vertraute,<lb/>
&#x301F;ich weiß &#x017F;elb&#x017F;t nicht wie, dem jungen Aegisth,<lb/>
&#x301F;und beredet ihn, &#x017F;ich in dem Vorhau&#x017F;e zur<lb/>
&#x301F;Ruhe zu begeben, damit, wenn er einge&#x017F;chla-<lb/>
&#x301F;fen wa&#x0364;re, ihn die Ko&#x0364;niginn mit aller Gema&#x0364;ch-<lb/>
&#x301F;lichkeit umbringen ko&#x0364;nne. Er &#x017F;chla&#x0364;ft auch<lb/>
&#x301F;wirklich ein, &#x017F;o wie er es ver&#x017F;prochen hat. O<lb/>
&#x301F;&#x017F;cho&#x0364;n! und die Ko&#x0364;niginn ko&#x0364;mmt zum zweyten-<lb/>
&#x301F;male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U u 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x301F;gen</fw><lb/></quote></cit></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[341/0355] mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder- baren deſſelben ſo verſchwenderiſch iſt, als mit den gemeinſten ordentlichſten Begebenheiten. Daß der Zufall Einmal der Mutter einen ſo frommen Dienſt erweiſet, das kann ſeyn; wir wollen es um ſo viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraſchung gefaͤllt. Aber daß er zum zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die nehmliche Weiſe, verhindern werde, das ſieht dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieſelbe Ueber- raſchung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraſchung zu ſeyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben ſo abentheurlich, aber nicht eben ſo mannichfaltig zu ſeyn weiß, als der Zufall. Von den augenſcheinlichen und vorſetzlichen Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey anfuͤhren. — 〟Der vierte Akt, ſagt er, faͤngt 〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi- 〟ſchen dem Tyrannen und der Vertrauten der 〟Merope an; hierauf begegnet dieſe Vertraute, 〟ich weiß ſelbſt nicht wie, dem jungen Aegisth, 〟und beredet ihn, ſich in dem Vorhauſe zur 〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeſchla- 〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch- 〟lichkeit umbringen koͤnne. Er ſchlaͤft auch 〟wirklich ein, ſo wie er es verſprochen hat. O 〟ſchoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten- 〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun- 〟gen U u 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/355
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/355>, abgerufen am 25.11.2024.