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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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te, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth
sey der Mörder ihres Sohnes, auf weiter nichts
als ihre eigene Vermuthung gründe: so wäre
es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht;
vielmehr hat sie allen Grund zu glauben, daß
er seiner Sache werde gewiß seyn. -- Es versteht
sich, daß ich das, was man zur Noth entschul-
digen kann, darum nicht für schön ausgebe; der
Poet hätte unstreitig seine Anlage viel feiner
machen können. Sondern ich will nur sagen,
daß auch so, wie er sie gemacht hat, Merope
noch immer nicht ohne zureichenden Grund han-
delt; und daß es gar wohl möglich und wahr-
scheinlich ist, daß Merope in ihrem Vorsatze der
Rache verharren, und bey der ersten Gelegen-
heit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen,
wagen können. Worüber ich mich also beleidi-
get finden möchte, wäre nicht dieses, daß sie
zum zweytenmale, ihren Sohn als den Mörder
ihres Sohnes zu ermorden, kömmt: sondern
dieses, daß sie zum zweytenmale durch einen
glücklichen ungefehren Zufall daran verhindert
wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen,
wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den
Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich be-
stimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie
ist, könnte auch den Gründen der schwächern
das Uebergewicht ertheilen. Aber das kann ich
ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freyheit

mit

te, daß ſich die Meinung des Tyrannen, Aegisth
ſey der Moͤrder ihres Sohnes, auf weiter nichts
als ihre eigene Vermuthung gruͤnde: ſo waͤre
es etwas anders. Aber dieſes weiß ſie nicht;
vielmehr hat ſie allen Grund zu glauben, daß
er ſeiner Sache werde gewiß ſeyn. — Es verſteht
ſich, daß ich das, was man zur Noth entſchul-
digen kann, darum nicht fuͤr ſchoͤn ausgebe; der
Poet haͤtte unſtreitig ſeine Anlage viel feiner
machen koͤnnen. Sondern ich will nur ſagen,
daß auch ſo, wie er ſie gemacht hat, Merope
noch immer nicht ohne zureichenden Grund han-
delt; und daß es gar wohl moͤglich und wahr-
ſcheinlich iſt, daß Merope in ihrem Vorſatze der
Rache verharren, und bey der erſten Gelegen-
heit einen neuen Verſuch, ſie zu vollziehen,
wagen koͤnnen. Woruͤber ich mich alſo beleidi-
get finden moͤchte, waͤre nicht dieſes, daß ſie
zum zweytenmale, ihren Sohn als den Moͤrder
ihres Sohnes zu ermorden, koͤmmt: ſondern
dieſes, daß ſie zum zweytenmale durch einen
gluͤcklichen ungefehren Zufall daran verhindert
wird. Ich wuͤrde es dem Dichter verzeihen,
wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den
Gruͤnden der groͤßern Wahrſcheinlichkeit ſich be-
ſtimmen ließe; denn die Leidenſchaft, in der ſie
iſt, koͤnnte auch den Gruͤnden der ſchwaͤchern
das Uebergewicht ertheilen. Aber das kann ich
ihm nicht verzeihen, daß er ſich ſo viel Freyheit

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[340/0354] te, daß ſich die Meinung des Tyrannen, Aegisth ſey der Moͤrder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermuthung gruͤnde: ſo waͤre es etwas anders. Aber dieſes weiß ſie nicht; vielmehr hat ſie allen Grund zu glauben, daß er ſeiner Sache werde gewiß ſeyn. — Es verſteht ſich, daß ich das, was man zur Noth entſchul- digen kann, darum nicht fuͤr ſchoͤn ausgebe; der Poet haͤtte unſtreitig ſeine Anlage viel feiner machen koͤnnen. Sondern ich will nur ſagen, daß auch ſo, wie er ſie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund han- delt; und daß es gar wohl moͤglich und wahr- ſcheinlich iſt, daß Merope in ihrem Vorſatze der Rache verharren, und bey der erſten Gelegen- heit einen neuen Verſuch, ſie zu vollziehen, wagen koͤnnen. Woruͤber ich mich alſo beleidi- get finden moͤchte, waͤre nicht dieſes, daß ſie zum zweytenmale, ihren Sohn als den Moͤrder ihres Sohnes zu ermorden, koͤmmt: ſondern dieſes, daß ſie zum zweytenmale durch einen gluͤcklichen ungefehren Zufall daran verhindert wird. Ich wuͤrde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gruͤnden der groͤßern Wahrſcheinlichkeit ſich be- ſtimmen ließe; denn die Leidenſchaft, in der ſie iſt, koͤnnte auch den Gruͤnden der ſchwaͤchern das Uebergewicht ertheilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er ſich ſo viel Freyheit mit

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/354>, abgerufen am 22.11.2024.